
OM, wann kommst du...?
"Das Forest Hill OM House“ liegt in einem der besseren Vororte von San Francisco. Die Hausregeln für Gäste besagen, dass man in einer Nebenstraße parken soll, drinnen bitte die Gardinen zuzieht und mit den Nachbarn auf keinen Fall ein Gespräch über das beginnt, was mich eigens aus Europa hierhergeführt hat. Auf dem Zettel, den ich im Taxi überfliege, lese ich von einer täglichen „morning practice“. Nicht für gemeinsames Stretching oder Singen, sondern sexuelle Stimulation. Denn „OM“ steht für „Orgasmische Meditation“ und bedeutet, 15 Minuten lang eine Klitoris nach festgelegten Regeln zu streicheln. Oder gestreichelt zu bekommen.
Eine junge Frau in Joggingkluft öffnet mir die Tür. Erika ist eine der neun Bewohner der imposanten Villa und etwas verschlafen. Dass sie sich ein Doppelbett mit einer anderen Frau teilt, gehört zur Philosophie der Edel-Kommune: Körperliche Nähe reißt Schranken nieder und zwingt zur Ehrlichkeit. „All your shit comes up“, erklärt mir Erika. Sie führt mich herum. Mein Zimmer in der Größe eines Ballsaals hat Kronleuchter, aber wenig Privatsphäre: Nur eine Schrankwand trennt mich vom Gemeinschaftsraum. Am nächsten Morgen beginnt mein OM-Einführungskurs bei OneTaste, der US-amerikanischen Organisation der Muschi-Streichler. Oder besser: der Firma. Schwarz ist die Einheitskluft der Mitarbeiter, bei den Frauen noch betont durch hohe Absätze und enge Kleider. Mit esoterisch angehauchten Tantra-Workshops hat das nichts zu tun. Die Crew erinnert vielmehr an ein Team von Flugbegleitern: vorbildlich gestylt und professionell freundlich, damit alle gut abheben.
Wir sind um die 40 Teilnehmer, verschiedene Hautfarben, Männer und Frauen gleichmäßig verteilt, überwiegend jüngeres und mittleres Alter. Natalie Thiel, quirlig, blond gelockt und mit zartem silbernen Nasenring, ist die Firmenchefin. „Wir alle sehnen uns nach Kontakt, wir alle haben Verlangen“, erklärt sie uns, „wenn ein Mann seinen Hunger zeigt, gilt er als aufdringlich oder abstoßend. Wenn eine Frau ihn zeigt, gilt sie als nuttig oder verzweifelt. Also verstecken wir unsere Wünsche.“ Ihr Ziel ist ein neuer Umgang mit sexuellem Verlangen: bessere Kommunikation, weniger Scham, mehr Authentizität und Tiefe. All das, verspricht sie, lehre uns ein winziger Punkt des weiblichen Körpers, wenn wir ihm genug Beachtung schenken: der obere linke Quadrant der Klitoris. Oder die Ein-Uhr-Position. Sensibler geht’s nicht: „Dort kommen die meisten Nervenenden zusammen.“
Dann schreitet die Referentin zu einem Whiteboard, auf denen die Begriffe „Orgasmus 1.0“ und „Orgasmus 2.0“ gegenübergestellt sind. Links das veraltete Modell – eine steile Kurve nach oben, die abbricht – steuere nur auf den Höhepunkt zu. Das ermüde auf Dauer das Sexleben, der Hunger nach Intimität werde nicht wirklich gestillt. Als erfüllender preist Natalie auf der rechten Seite die „Slow Sex“-Variante. Sie verlaufe in Wellen und Kreiseln und schaffe den Raum für bessere „connection“, nicht nur im Bett. Zur Vagina sagt sie „Pussy“, und aus dem Mund der OM-Chefin klingt das so sauber und charmant, als preise sie Tupper-Produkte an.
Nach dem Vortrag und einem gemeinsamen Mittagessen kommt es zur Live-Performance des „body hackings“. Natalie zieht sich dafür den Rock aus und ihren Mann Paul herbei. Die zwei lernten sich vor neun Jahren bei einem ähnlichen Seminar kennen. Sie positioniert sich mit gespreizten Beinen vor uns. Er streift sich die Latexhandschuhe über, legt ihr besänftigend die Hände auf die Schenkel – „safeporting“ – und beschreibt nüchtern, was er dazwischen sieht:„Graurosa Labialfalten mit weißlicher Ausbuchtung rechts, daneben ein dunkler Fleck, schwarze Schamhaare.“
Ein Klacks Gleitmittel auf den linken Zeigefinger, und dann geht es los: ein rhythmisches Kraulen, das wie zartes Wimpernflattern anmutet. Er ist auf ihren „Spot“. Sie dirigiert die Bewegung mit einer klaren Ansage: „Etwas mehr nach links.“ Er beugt sich über sie, als ob er eine Gitarre zupft. „Danke“. Sie stöhnt. Er lächelt. Sie kommt. Er legt ihr zum Schluss die Hand mit Druck auf die Vulva, um sie wieder zu erden. Sie strahlt. „Was hat man denn als Mann davon?“, möchte ich von Paul, dem Mann mit dem sensiblen Finger wissen. „Wir tauchen in die Kraft des Weiblichen ein und spüren eure Magie“, erklärt er, „für mich fühlt sich das wahnsinnig an.“ Abends gibt es Barbecue. Allerdings ohne Alkohol. Und mit leiser Musik – Orgien gehen anders.



Fast alle Gäste haben bereits OM-Erfahrungen gesammelt. Erika ist gerade dabei, 6500 Dollar zu sammeln, um den „Nicole-Circle“ durchlaufen zu können. Dieser ist benannt nach Nicole Daedone, der Gründerin von OneTaste. Die charismatische 50-Jährige lädt zu exklusiven Seminaren auf ihrem nordkalifornischen Landsitz und zählt prominente US-Frauen wie Gwyneth Paltrow und Khloé Kardashian zu ihren Anhängern.
Der hagere, grauhaarige George hebt sich von der Gruppe etwas ab. Er wirkt sehr abgeklärt. „Wir haben einfach alles ausprobiert“, erzählt er von seiner ersten Begegnung mit OM-Erfinderin Nicole Daedone. Kennengelernt haben sie sich in der Kommune Lafayette Morehouse. Ende der Sechzigerjahre gegründet, steht diese für kalifornische Hippie-Freizügigkeit und durchaus umstrittene Sex-Experimente. Aus dem Repertoire dieser Kommune stammt der Begriff „DOing“, Abkürzung für „Deliberate Orgasm“, eine Praxis, in der sich der Zustand einer bewusst herbeigeführten sexuellen Energie bis zu drei Stunden hinziehen kann.
Aus diesem „DO“ und entsprechenden Erfahrungen hat Nicole Daedone dann die Marke „OM“ entwickelt und schließlich als smarten Mix aus Erotik und Business etabliert. Die penetrante Vermarktung zeigt Erfolge, provoziert aber auch Kritik, und in Medienberichten wird OneTaste immer wieder in die Nähe einer geldgierigen Sekte gerückt. Veranstaltungen zum Kennenlernen („TurnOn“) werden mittlerweile auch in Europa angeboten.
"Möchtest du OMen?“, frage ich Jeff, einen meiner Mitbewohner am nächsten Morgen. Dabei versuche ich so locker zu wirken, als würden wir uns später zu einer Partie Tischtennis im Garten der Villa verabreden. Dabei bin ich nervös. Jeff ist
eher dick und hat nicht die beste Frisur, aber ich suche ja kein Date. Das wäre auch okay. Nur dürfte das nicht im „Nest“ stattfinden. Ich ziehe mich also von der Hose abwärts aus und sinke ins Nest, das Jeff aus Yogamatte, Kissen und Decke vorbereitet hat. Seltsam, aber mich nackt vor einem Fremden zu entblößen, kommt mir nicht komischer vor als beim Arzt.
„Ich fasse dich jetzt an“, sagt er und schaut mir in die Augen. Ich schließe meine. Mit jedem Fingerstreich rieselt ein warmer Schauer durch mich. Ich sinke tiefer in die Kissen, atme lauter. Ich will mehr. Und dann wieder etwas weniger. Ich sage es ihm. „Danke“, sagt er und nickt, wie ein ferngesteuerter menschlicher Vibrator. Es ist herrlich. Mir wird heißer. Ich versuche, nicht daran zu denken, ob ich wohl kommen werde oder nicht, sondern nur zu genießen. 13 Minuten sind schnell um. Der Timer von Jeffs Handy dudelt. „Noch zwei Minuten“, sagt er ruhig. „Runterstreichen“ heißt das, was er jetzt macht. Als letzte rituelle Handlung zieht er das kleine Handtuch unter meinem Po hervor und wischt mich damit vorsichtig ab. Es ist ein intimer, aber neutraler Akt. Jeff hat eine unaufdringliche Art – keinerlei Anzüglichkeit, nur sachliche Wärme. Ich fühle mich sicher. Mein „Frame“? Rahmen – so nennen OMer die Empfindungen während der Behandlung. Wir sollen sie beschreiben.
Keine Fantasien oder Interpretationen, sondern möglichst wertfrei. Ich erinnere mich an ein starkes Zucken in den Füßen und ein Kribbeln im Hals. Aber was genau meine Vagina spürte, außer einem äußerst geschickten Zeigefinger, kann ich Jeff leider nicht sagen. Das legt sich womöglich mit der Zeit, wenn man öfter praktiziert und somit aufmerksamer wird. „Two OMs a day keeps the doctor away“, scherzt Jeff beim Aufstehen. Dass die Ausschüttung des Kuschelhormons Oxytocin dem Körper und der Seele guttut, ist wissenschaftlich nachgewiesen.
Und wenn es nach OneTaste geht, sollten Ärzte Orgasmische Meditation demnächst auch als physiotherapeutische Maßnahme wie Nackenübungen oder Kniebeugen verschreiben dürfen. Als ich am nächsten Tag beschwingt durch die Flughafenhalle laufe, wirken die 15 Minuten im Nest noch immer angenehm nach. Ich fühle mich frei und frivol. Vor dem Yoga-Raum, der am Airport von San Francisco rund um die Uhr geöffnet hat, fällt mir ein, was Natalie, mein Coach, im Gespräch als Vision erwähnte: Einen OM-Raum sollte es bald auch ganz selbstverständlich am Flughafen geben... „Für die Reisenden der Zukunft.“


