

Keine Sorge, wir wissen, dass Sie Individualistin sind. Wollen wir Ihnen gar nicht absprechen. Dürfen wir Ihnen trotzdem eine Frage stellen? Kommt Ihnen folgendes Szenario bekannt vor? Sie schlendern in einer Boutique zufällig einer anderen Kundin hinterher und schenken irgendwie immer besonders den Teilen Beachtung, die diese Frau vorher schon vom Ständer gezupft und begutachtet hat. Erwischt? Nun, das kann jeder Individualistin mal passieren. Und, ähm, Sie besitzen nicht zufällig ein Smartphone mit einem kleinen Apfelsymbol auf der Rückseite? Schwamm drüber! Interessant ist nur: Fragt man bei Psychologen nach, werden die dieses Lemming-Verhalten nicht für einen Ausrutscher halten. Sondern uns erzählen, dass wir in Wirklichkeit viel beeinflussbarer sind, als wir gern glauben möchten. Dabei sind wir so stolz darauf, dass wir uns seit langer, langer Zeit nichts mehr von unseren Eltern sagen lassen. Wir pfeifen drauf, dass unsere spießige Nachbarin keinerlei modisches Verständnis für unseren asymmetrischen Haarschnitt hat und wir jetzt bevorzugt teures "Fidschi“-Wasser trinken, weil es das reinste auf der ganzen Welt sein soll. Wir sehen uns nun mal am liebsten als unabhängige Wesen, die sich stets eine eigene Meinung bilden.

Von wem lassen wir uns beeinflussen?
Das ist aber in den meisten Fällen nur die halbe Wahrheit. Denn wir lassen uns vielleicht von unseren Eltern nichts mehr sagen – dafür aber von der Masse. Wir können verstehen, dass Sie das jetzt irritiert, denn es hat ein mieses Image, sich dem Einfluss anderer zu unterwerfen. Vielleicht kennen Sie Menschen, die das offensichtlich tun – eine Freundin, die ihren Lebensstil auswechselt wie ihre Garderobe, wenn sie mit einem neuen Partner zusammenkommt, nur um ihm zu gefallen. Oder die alte Schulkameradin, die Jura studiert hat, um die Kanzlei ihres Vaters zu übernehmen, obwohl sie viel lieber etwas mit Pferden gemacht hätte. Solche menschlichen Chamäleons schauen wir meist ein wenig mitleidig an. Und ahnen dabei gar nicht, von was für Faktoren unsere eigenen Handlungen bestimmt werden, ohne dass wir es merken. Matthew Salganik, Soziologie-Professor an der Universität Princeton, sagt: "Der Mythos ist, dass Menschen individuelle Entscheidungen treffen. Aber unser Geschmack wird tatsächlich von sozialen Kräften geformt.“ Heißt: Mehr oder weniger unterbewusst orientieren wir uns an unseren Nächsten.
Warum folgen wir dem Beispiel anderer?
Um das zu belegen, führten Salganik und Kollege Duncan Watts eine Studie mit einer Website durch, auf der Tausende Probanden ziemlich verschrobene Songs anhören konnten. Die Hälfte der Gruppe konnte einfach die Songs downloaden, die ihnen gefielen. Der anderen Hälfte dagegen wurde angezeigt, wie oft andere die Songs schon heruntergeladen hatten. Und die wählten für ihren Download meist die beliebtesten Songs. Salganik erklärt den Sinn dieses Schwimmens mit der Masse damit, dass es den „Müll“ limitiere – über den Geschmack der anderen nehmen wir eine natürliche Abkürzung, um uns im überladenen Markt zu orientieren.

Wie stark ist der Einfluss unserer Umgebung?
Dieser Schneeball-Effekt scheint jedoch nicht nur unser Konsumverhalten zu betreffen. Er scheint viel weitreichender zu sein. Forscher der Universität Harvard haben sogar herausgefunden, dass auch Glück, bestimmte Verhaltensweisen und ein gesunder Lebensstil sozial ansteckend sind. James H. Fowler und Nicholas A. Christakis werteten dafür Daten von 4739 Personen aus – die Daten hatten sie innerhalb von 20 Jahren gesammelt. Fazit: Jeder glückliche Freund im eigenen Umkreis steigert das eigene Glücksempfinden um 9 Prozent. Nimmt jemand im Freundeskreis zu, tun es 10 Prozent der Freunde ebenfalls – und hört jemand mit dem Rauchen auf, hat das einen ähnlich starken Einfluss auf sein Umfeld. Fowler meint dazu: "Verhaltensweisen verbreiten sich durch unterbewusste soziale Signale, die wir von anderen aufschnappen. Sie liefern uns Hinweise, was als normales Verhalten gewertet wird.“
Imitation macht beliebt
"Normal“, das klingt leider immer so wenig schmeichelhaft. Wer von uns möchte schon ein Normalo sein? Allerdings: Überdenken wir die wichtigen Entscheidungen, die wir irgendwann mal im Leben gefällt haben, werden wir uns hier und da tatsächlich ertappt fühlen: Waren wir damals nur mit dem langweiligen Jan zusammen, weil alle anderen Mädchen ihn so süß fanden? Haben wir eigentlich nur Punkmusik gehört, weil unsere beste Freundin damals drauf stand? Und haben wir unser Kind Friedrich, Cheyenne oder Nordwest genannt, weil diese Namen in einer bestimmten Umgebung als salonfähig gelten und wir uns heimlich nach Anerkennung sehnen? Tatsache ist: Sich als Teil einer Gruppe zu fühlen, spielt bei uns menschlichen Chamäleons unterbewusst eine große Rolle. Denn Sozialpsychologen wissen: Indem wir andere Menschen imitieren, werden wir tatsächlich beliebter. Die gute Nachricht daran ist, dass wir uns generell gar nicht schämen müssen, wenn wir uns wie Lemminge verhalten – es dient einfach nur dazu, uns selbst ein Stückchen Sicherheit zu schenken. Und im besten Fall Sympathien.
Die Macht der Körpersprache
Wie beeinflussbar wir tatsächlich sind, hängt zum großen Teil auch von den Menschen ab, die uns umgeben. Manche wissen ziemlich gut, wie sie uns um den Finger wickeln können – und wir bekommen es gar nicht mit. Das können Menschen sein, die uns etwas verkaufen wollen. Kollegen oder Vorgesetzte. Oder Männer, die unser Herz, schlimmstenfalls aber die Kontrolle über uns gewinnen wollen. Viele von ihnen beherrschen – zufällig oder erlernt – eine besondere Technik: Sie ahmen auf unauffällige Weise unsere Körpersprache nach. Ein Experiment der niederländischen Universität Nimwegen zeigt das sehr deutlich: Testpersonen wurden zu unverfänglichen Interviews eingeladen. Bei der Hälfte imitierten die interviewenden Psychologen unauffällig die Körpersprache ihrer Versuchskaninchen, etwa ihre Arm- und Beinhaltung sowie bestimmte Gesten. Nach kurzer Zeit ließen die Psychologen einige Kugelschreiber fallen. Von den 50 Prozent der Testpersonen, die nicht imitiert wurden, half nur jeder Dritte beim Aufheben. Doch in der "gespiegelten“ Gruppe halfen unglaubliche 100 Prozent. Diesen Trick des "Spiegelns“ sollte man sich merken – er ist nach Meinung von Psychologen äußerst hilfreich bei Verhandlungen und anderen zwischenmenschlichen Angelegenheiten.
Was ist nun dran, am Mitläufer-Effekt?
Sie ahnen: Wer Menschen auf den Leim geht, die solche Manipulationstechniken beherrschen, läuft Gefahr, tatsächlich nicht mehr frei zu entscheiden. Und auch, wer sich nicht nur harmlos am Massengeschmack orientiert, sondern immer aus Angst oder Verpflichtungsgefühl anderen Menschen gegenüber handelt, fühlt sich vermutlich irgendwann wie ferngesteuert. Ein bisschen Chamäleon sein hilft im Leben, aber nur, solange es nicht verhindert, die eigenen Träume und Vorstellungen zu leben. Das eine vom anderen zu unterscheiden, kann knifflig sein, aber hey, wir lieben doch die Herausforderung.

4 Wege wie Sie zur Selbstentscheiderin werden:
- Stellen Sie sich das Gegenteil von dem vor, was Sie wollen, glauben oder unbedingt besitzen wollen. Das erweitert manchmal ziemlich den Horizont.
- Seien Sie so gut informiert wie möglich, bevor Sie eine Entscheidung treffen.
- Lernen Sie, Ihr Verhalten anderen gegenüber kritisch zu sehen, indem Sie sich von außen betrachten. So erkennen Sie, wann Sie aus Harmoniesucht handeln.
- Üben Sie das Neinsagen. Tut überhaupt nicht so weh, wie man annimmt, und macht viiiiel selbstbewusster.

3 Sätze an denen Sie merken, dass Sie sich selbst nicht treu sind:
- "Das haben wir schon immer so gemacht.“ Weil andere es schon immer so getan haben – zum Beispiel Ihre Eltern, Geschwister, Freunde oder Kollegen.
- "Das kann ich ihr nicht antun.“ Ihr Handeln ist oft durch Rücksichtnahme oder (noch schlimmer) durch Schuldgefühle anderen gegenüber gesteuert.
- "Du hast sicher recht.“ Die Meinung anderer ist Ihnen sehr wichtig. Harmonie steht an erster Stelle, da riskiert man lieber keinen Streit, mit dem man seine Bedürfnisse durchsetzen könnte.