Warum muss ich immer im Mittelpunkt stehen?

Warum muss ich immer im Mittelpunkt stehen?

Auf Partys spielen sie gern den Alleinunterhalter, und auch im Job sind sie lieber Zugpferd als Mitläufer? Blöd nur, dass sie dabei manchmal so laut sind, dass die Anderen ihre leisen Töne glatt überhören. Zeit, einen Gang runterzuschalten.

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Busfahrten nach geselligen Abenden fühlen sich irgendwie seltsam an. Stand man vor zehn Minuten noch inmitten einer lärmenden und sich vergnügenden Menge, sitzt man plötzlich allein auf einem abgesessenen Sitz und starrt nach draußen ins Dunkel. Bei mir piepst es dann meistens noch immer so komisch in den Ohren. Leider seltener wegen der lauten Musik, sondern eher wegen meiner lauten Art. Ich rede gern. Ich kann nicht anders. Ständig und überall muss ich meine Gedanken zum Besten geben. Meistens ungefragt. Denn wenn ich immer erst auf eine Einladung warten würde, wäre ich wahrscheinlich schon geplatzt vor lauter Mitteilungsdrang. Ich weiß, was Sie jetzt denken: „Ja und? Ist das ein Problem? Soll sie doch froh sein, dass sie nicht schweigend und unbeachtet ganze Abende still in einer Ecke verbringt.“ Damit haben Sie natürlich recht, dennoch beschleicht mich mit ziemlicher Regelmäßigkeit dieses seltsame Gefühl des Unbehagens. Warum? Weil ich Angst habe, andere mit meiner Quasselei unheimlich zu nerven. Reden die vielleicht über mich, wenn ich weg bin und sie endlich auch zu Wort kommen können? Doch am schlimmsten finde ich die Tatsache, dass ich es meistens schaffe, Tausender Worte zum Trotz nichts Wirkliches zu transportieren. Selbst wenn ich physisch in der Mitte einer fröhlichen Runde stehe, kann es passieren, dass ich mich in Gedanken oft an deren Rand sitzen sehe.

„So ein Gefühl ist nicht unüblich für sehr extrovertierte Menschen“, weiß Diplom-Psychologin Simone Marwede. „Einmal in Fahrt gekommen, ist es für sie nicht immer einfach, auf ihr Gegenüber einzugehen. Sie beherrschen dann zwar die Konversation, spüren aber im gleichen Moment, dass sie ihrem Gesprächspartner und sogar sich selbst damit nur wenig gerecht werden.“ Was jetzt zuerst furchtbar unsympathisch klingt, kann aus einer Art Unsicherheit heraus passieren. „So wie sich Schüchterne das Schweigen als Schutzfunktion aneignen, können extrovertierte Menschen das Reden als Ablenkungsmanöver benutzen.“ Es ist eine gute Taktik, um damit über Schwächen oder Verletzlichkeiten hinwegzutäuschen. Unliebsamer Nebeneffekt dieser Verhaltensweise ist allerdings, dass andere Menschen einen oft falsch einschätzen. Sie sehen dann zwar den Menschen, der in Diskussionen gerne seine Meinung zum Besten gibt, die verletzliche Seite dahinter bleibt ihnen jedoch verborgen. Wie oft habe ich mich schon darüber geärgert, dass andere in mir immer wieder nur die Starke sehen, die die meisten Probleme locker mit einem Witz wegsteckt. Dabei bin ich ja im Grunde selbst daran schuld, wenn ich eben jede intimere Situation mit einem lockeren Spruch zu überspielen versuche.


Wie so oft im Leben geht es auch bei dieser Verhaltensweise um eine zentrale Frage: Bin ich es wert, geliebt zu werden? Einige Menschen beantworten sie, indem sie versuchen, besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Denn nur, wer sich von der Masse abhebt, kann bemerkt und somit auch gemocht werden. In den meisten Fällen eignet man sich diese Verhaltensweise schon in der Kindheit an. Wer in jungen Jahren von seinen Eltern oder anderen wichtigen erwachsenen Bezugspersonen wie Großeltern, Lehrern oder sogar Sporttrainern im Alltag nicht genug Aufmerksamkeit bekommt, versucht, durch alternative Strategien den Fokus irgendwie auf sich zu lenken. Man wächst in dem Glauben auf, ständig etwas Besonderes leisten zu müssen, um gesehen zu werden. Die Suche nach Aufmerksamkeit kann da schnell zu einer Art Sucht werden. „Sehr extrovertierte Menschen betreten ihre Bühne gerne mit viel Trara, halten damit aber bewusst oder unbewusst andere um sich herum auf Abstand und vermeiden zu viel Intimität“, so die Diplom-Psychologin. Dabei geht es ihnen nicht darum, ein Gespräch oder andere Menschen zu dominieren, sondern vielmehr um den Versuch, sich vor deren Urteil zu schützen. Da sie sich selbst als nicht ausreichend liebenswert betrachten, haben sie ständig Angst, dass es auch ihren Mitmenschen so gehen könnte, wenn sie sich nicht auffällig verhalten.

Klingt nach einem Teufelskreis, aus dem es nur schwer ein Entkommen gibt: Bin ich zu laut, fühle ich mich hinterher unwohl. Bin ich zu leise, habe ich Angst, übersehen zu werden. „Nein, jeder kann seine Verhaltensweisen wenigstens ein Stück weit ändern.“ Davon ist Simone Marwede überzeugt: „Die ersten Gedanken, die Sie sich im Stillen für sich allein machen, sind schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Nur wer seine Probleme erkennt, kann sie annehmen und lösen.“ Nutzen Sie die Busfahrt nach Hause also ruhig, um über sich nachzudenken. Überlegen Sie, was Sie genau an Ihrem Verhalten an diesem Abend gestört hat. Was hat Sie dazu bewogen? Wem wollten Sie in der Vergangenheit beweisen, dass Sie etwas Besonderes sind? Und vor allem: Was ist mir wichtiger – fremde Menschen zu unterhalten und zum Lachen zu bringen oder wirkliche Freundschaften zu finden? Wenn Sie auf diese Fragen allein keine Antwort finden sollten, ist es vielleicht hilfreich, sich guten Freunden gegenüber zu öffnen. Fragen Sie sie, ob sie Ihr Verhalten als anstrengend beurteilen. Sie können sogar eine Art Zeichen vereinbaren, das Ihre beste Freundin Ihnen gibt, wenn Sie beim nächsten geselligen Abend zu viel Fahrt aufnehmen. So fällt es Ihnen leichter, alte Verhaltensmuster zu durchbrechen und für sich selbst und andere ein angenehmerer Gesprächspartner zu werden.

Lassen Sie aber den Kopf nicht hängen, wenn es Ihnen trotzdem nicht gelingt, etwas leisere Töne anzustimmen. Es gibt nämlich noch eine andere Interpretationsmöglichkeit für Ihr Verhalten: Es macht Ihnen einfach Spaß. Damit folgen Sie zwar nicht immer den idealen gesellschaftlichen Höflichkeitsregeln, aber dafür verbreiten Sie tatsächlich ganz gute Stimmung. Und dass Ihre Freunde davon nicht annähernd so genervt sind, wie Sie denken, zeigt sich vielleicht auch daran, dass Sie immer wieder eingeladen werden. Mir kam auf meiner letzten nächtlichen Busfahrt jedenfalls ein verrückter Gedanke: Vielleicht mögen mich meine Freunde ja genau deshalb, weil ich so bin, wie ich bin.

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