
Noch in den 90er-Jahren war alles ganz einfach. Man erkannte auf den ersten Blick, wer geliftet war und wer nicht. Einige ältere Ladys (und auch Herren) hatten sich ihr Gesicht so stramm über die Ohren tackern lassen, dass man nicht mehr wusste, wo vorne und wo hinten war. Wer, bitte schön, wollte so aussehen?
Meine Freundinnen und ich, damals alle Mitte zwanzig, jedenfalls nicht. Da gab es keine zwei Meinungen: Niemals würden wir uns im Gesicht herumpfuschen lassen. Nie. Wir wollten in Würde altern. Darauf stießen wir mit einem Glas Prosecco an und rauchten eine Zigarette. Fünfzehn Jahre später sieht die Sache schon anders aus. Die ersten feinen Fältchen sind da, eigentlich noch nicht schlimm. Nur manchmal, nach einer langen Nacht, sieht es aus, als hätte einem jemand das Streckennetz der Tokioter U-Bahn auf das Gesicht gestempelt – und schnell klopft man teure Creme in die Haut, bis man wieder unter die Leute gehen kann. Was bleibt,ist die bange Vorahnung, dass all das Cremen und Klopfen bald nicht mehr helfen wird. Und dann? „Auf keinen Fall Botox!“ Da waren sich meine Freundinnen und ich immer einig. (Muss man einfach doof finden, Nervengift, wer kennt da schon die Spätschäden? Und überhaupt, Nicole Kidman und Carla Bruni mit ihren eingefrorenen Visagen ... bäh!)
Mehr Botox dank Wandel in der Gesellschaft
Bis irgendwann kürzlich, nach dem dritten Glas Wein, Freundin P. verschämt mit der Sprache herausrückte: Sie habe sich Botox spritzen lassen, in die Falte zwischen den Augen. Und sie würde es immer wieder tun, denn sie sei von dem Ergebnis begeistert. Darauf herrschte erst mal Stille. Dann brach es aus uns anderen heraus: „Tat es weh?“, „Wie teuer?“, „Wo hast du es machen lassen?“ Das ist nur ein Beispiel für den Wandel, der in unserer Gesellschaft stattfindet: Die Hemmschwelle, sich per Spritze verschönern zu lassen, ist extrem gesunken. Unsere aktuelle Gewis-Umfrage ergab, dass jede dritte Frau unter vierzig Botox zumindest einmal ausprobieren würde. Auch die offiziellen Zahlen bestätigen diesen Trend: Innerhalb von zwei Jahren stieg die Botoxbehandlung auf der Liste der häufigsten Schönheitsoperationen von Platz sechs (7,3 Prozent) auf Platz vier (12,4 Prozent). Direkt gefolgt von der Faltenunterspritzung (11,9 Prozent). Wobei man trennen muss zwischen solchen minimalinvasiven Behandlungen und einem operativen Eingriff. „Richtige Facelifts sind für viele Frauen immer noch ein Tabu“, erklärt Marianne Tabudlo vom Kosmetikunternehmen Laboratoires Filorga, das unter anderem Material zur Faltenunterspritzung herstellt. „Heute werden verschiedene Angebote kombiniert, zum Beispiel Botox, Filler mit Hyaluronsäure und Laser-Peelings für feine Poren.“ Im Übrigen sollen auch gar nicht alle Falten ausgebügelt werden, sondern vor allem die Zornesfalte oder die sogenannten Marionettenfalten um die Mundwinkel. Das sind die fiesen Linien, die uns müde und verlebt aussehen lassen. „Es wird ein frischer, ausgeruhter Gesichtsausdruck angestrebt“, so Tabudlo. „Es geht auch nicht darum, jünger auszusehen. Die Leute sollen fragen: ‚Hey, warst du im Urlaub?‘“
Botox zur Falten-Prävention
Klingt traumhaft – aber wollen wir das wirklich? Das Gesicht würde sich zu einem kostspieligen Projekt gestalten, an dem ständig weitergearbeitet werden muss. Filler und Botox halten ja nicht ewig. Dazu kommt, dass man so früh wie möglich anfangen soll: Botox hat auch einen präventiven Effekt und kann verhindern, dass Falten überhaupt entstehen. Während meine Generation damals lange vor dem Parfümerieregal stand und überlegte, ob es in Ordnung ginge, 40 Mark für eine Tagescreme auszugeben, marschieren die Fünfundzwanzigjährigen von heute gleich in eine Arztpraxis und lassen sich prophylaktisch Botox spritzen. Puh...
Was ist, wenn man nicht mitmacht? Steht man in fünfzehn Jahren als einzige Frau mit Falten da? „Ja“, sagt die Psychologin Ada Borkenhagen, die über die Gründe und Auswirkungender Schönheitschirurgie forscht. „Es kann passieren,dass man an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird, weil sich die Klassenunterschiede bald im Gesicht ablesen lassen werden: Frauen, die es sich leisten können, von früh an die Falten korrigieren zu lassen. Und die, die das eben nicht können.“ Borkenhagen ist sich sicher: „In Zukunft werden die Mittelschichtsfrauen sich über Jahre Botox und Hyaluronsäure leisten müssen. Genau wie eine teure Kosmetik oder einen teuren Friseur.“ Da könnte man sich jetzt empört an die Stirn tippen. Aber das hätten die Leute vor fünfzehn Jahren auch gemacht, wenn man ihnen erzählt hätte, dass heute an jeder Straßenecke ein Waxing-Studio steht, in dem sich Menschen unter Schmerzen Intimfrisuren verpassen lassen. Okay, wir Frauen haben schon immer für die Schönheit gelitten. Aber warum sind wir auf einmal so besessen davon, ständig an unserem Äußeren herumfeilen zu müssen?
Mit Botox auf der Suche nach dem Traummann
„Früher war die Biografie eines Einzelnen viel vorbestimmter, zum Beispiel durch Klassen- oder Familienzugehörigkeit. Heute muss sich jeder selber definieren und wird danach auch beurteilt“, erklärt Ada Borkenhagen. „Dazu kommt, dass in westlichen Gesellschaften die Menschen immer älter werden und die Ehen nicht mehr ein Leben lang halten. So muss man im Zweifel öfter auf Partnersuche gehen, und da ist die äußere Erscheinung ein ganz wichtiger Punkt.“ Übrigens stehen nicht nur wir Frauen so unter Druck. Immer mehr Männer lassen sich die Falten behandeln. „Sie wollen fit und dynamisch wirken, um sich beruflich gegen jüngere Konkurrenten durchzusetzen“, sagt Dr. Mehmet Akbas, Facharzt für Plastische Chirurgie und Leiter der Arteo Klinik Düsseldorf. „Sie hoffen, dass sich ihre Ideen mit einem wachen, vitalen Aussehen besser verkaufen lassen.“
Kulturelle Unterschiede
Und so investieren wir viel Zeit und Geld, um mithalten zu können. Allerdings – und das scheint typisch deutsch zu sein: Es ist uns peinlich. In unserer PETRA-Umfrage gaben 64 Prozent der Frauen an, lieber nicht über Botoxbehandlungen zu reden. Im Gegensatz zu Frauen aus den USA oder aus Russland, wo aufgespritzte Lippen oder ein neuer Busen immer noch als eine Art Statussymbol gelten. Man soll sehen, dass der Schönheitschirurg seinen Job getan hat. Das wäre hier undenkbar. Unsere Stars? Nee, die gehen nicht zum Beauty-Doc, die schwören alle auf ihre gesunde Lebensweise. Und man selbst trinkt Detox-Tee, bis er einem aus den Ohren wieder herauskommt, und altert trotzdem. „Ich bin mir sicher, dass so gut wie alle weiblichen Promis über 40 ihr Äußeres mithilfe von minimalinvasiven Eingriffen haben optimieren lassen“, so Dr. Akbas. Wie beruhigend! Im Internet boomen derweil die Beauty-Foren, in denen sich die Mitglieder anonym über geplante oder bereits erlebte Schönheits-OPs austauschen. Nicht wenige Frauen erzählen, dass sie, seit sie sich mit Botox behandeln lassen, nicht mehr unter Migräne und Depressionen leiden. Wie kann das sein? „Menschen, die ihre Stirn durch die Lähmung nicht mehr in die Zornesfalte legen können, sind generell nicht mehr so gut in der Lage, Zorn in der Mimik auszudrücken“, erklärt Ada Borkenhagen. „Darum gibt es auch keine Rückkopplung auf das Empfinden von Zorn. Man kann fast sagen, dass ich mir über das attraktivere Äußere auch eine schönere Seele hole.“ Alles Gründe, die für Botox & Co. sprechen.
Trotzdem, wäre es nicht schön, ganz in Ruhe alt zu werden? So wie die zwei Mittsiebzigerinnen letztens im Bus. Die sich auf ihren gemeinsamen Theaterabend freuten. Mit Runzeln und Falten und einem inneren Leuchten, das aus ihrer ungebrochenen Neugier aufs Leben resultierte. Sollten das nicht lieber unsere Vorbilder sein? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist schwierig. Vielleicht könnte sie so lauten: Ja, wir wollen in Würde altern und unsere Falten lieben. Aber vielleicht nicht jede...