

Diese Kolumne schreibe ich mal wieder auf den allerletzten Drücker. Ich brauche das. Druck, Drohungen, Deadlines. Von außen. Ich selbst zähle nicht. Deadlines sind zum Beispiel Elternbesuche, Abendessen für Kollegen oder Weihnachten. Aber das reicht natürlich nicht fürs ganze Jahr. Besser wäre etwas wie: „Wenn du nicht bis übermorgen das Moos aus dem Rasen entfernt hast, wirst du von der Waldfee verflucht.“ Oder: „Wenn du die Weingläser nicht bis heute Abend 21 Uhr abgestaubt hast, platzt dein dunkelblaues Pradakleid in der U-Bahn über dem Po.“ Dann würde ich prima funktionieren. Ich bräuchte im Privatleben einfach einen Boss, der den Überblick behält und mich mit seinen Sanktionsdrohungen auf Trab hält. Der Mann, der die Hälfte der Miete zahlt, kann es leider nicht sein. Der fährt bis Anfang September mit Winterreifen und behauptet dann, nicht der Letzte zu sein, der NOCH mit Winterreifen fährt, sondern der Allererste, der es SCHON macht. Dinge, die unangenehm und nicht gerade lebenswichtig sind, schieben wir gerne auf morgen, übermorgen oder den Sankt-Nimmerleins-Tag.
Aber nicht nur Unangenehmes. Es ist mir zum Beispiel ein Rätsel, wie man im Juni schon wissen kann, wann, mit wem und wohin man im Juli in Urlaub fährt. Ich habe Freunde, die können dir genau sagen, wo sie am dritten Abend ihres Urlaubs essen gehen. Und dann haken sie ihre To-do-Liste ab, zusammengestellt nach den drei besten Reiseführern. Doch damit bringt man sich um sein wohlverdientes Adrenalin. Denn wir machen Dinge ja nicht nicht, weil wir faul oder bequem wären. Es ist einfach eine viel größere Herausforderung, den abgelaufenen Reisepass erst einen Tag vor der Fernreise erneuern zu lassen. Das Gefühl, auf den letzten Drücker das Unmögliche geschafft zu haben, ist unbezahlbar. Andere müssen für so einen Kick Bungee jumpen oder sich Stromschnellen hinunterstürzen – mir reicht die Steuererklärung. Die Freude darüber, wie viel man gespart hat, weil man den Verspätungszuschlag wegargumen- tieren konnte? Millionen wert.

Und dann wären da noch die Dinge, die man nicht tun muss, aber gerne möchte. Unbedingt. Irgendwann einmal. Australien! Ich war noch nie dort. Man sollte hin, bevor einem die Hitze zu sehr zu schaffen machtodermanfüranstrengendeTouren ein Sauerstoffgerät benötigt. Oder Westküste USA mit dem Cabrio, oder Ostküste zum Hummeressen. Ich habe ein ganzes Regal mit Büchern wie „1000 Orte, die du gesehen haben musst, bevor du stirbst“ oder „100 Restaurants, in denen du gegessen haben musst, bevor du stirbst“. Es gibt noch so viel zu erledigen. Ich könnte morgen damit anfangen. Ach nein, geht ja nicht. Morgen fange ich ja schon mit regelmäßigem Sport und gesunder Ernährung an. Und morgens trinke ich dann den guten Morgentau statt eines doppelten Espresso. Ich habe auch noch keinen Tauchschein und keinen Trauschein. Kommt alles auf die Liste: „1000 Dinge, die ich endlich mal erledigen muss, wenn ich nicht gerade bis spät abends arbeite oder schlafe“. Seit Jahren habe ich vor, endlich wieder Klavierunterricht zu nehmen. Und beim letzten Treffen mit meinen besten Freundinnen aus Genf und London haben wir mal wieder keine Fotos gemacht. Vergessen, wie bei all den Treffen vorher. Machen wir nächstes Mal, dann sehen wir auch besser aus. Dünner und brauner. Wir haben ja noch so viele Gelegenheiten. Haben wir? Vor Kurzem ist die Mutter eines sehr guten Freundes gestorben. Kurz vor ihrem Tod hatte sie ihren Sohn gebeten, den kostbaren Wein zu sichern. Ihr halber Keller war voller Weinkisten für besondere Gelegenheiten. Französische Rotweine aus den 70er- und den 80er-Jahren, große Lagen. „Den trinken wir mal, wenn es einen ganz besonderen Anlass gibt“, hatte sie immer gesagt. Nach ihrem Tod öffneten wir einige Flaschen. Sie waren ungenießbar. Alle waren zu Essig geworden. Wir hatten den richtigen Zeitpunkt verpasst.