
Wie zur Hölle bin ich so weit gekommen? Wie konnte ich es so weit schaffen? Warum?“ Gerade einmal 26 Jahre alt ist die Frau, die sich immer wieder öffentlich diese Fragen stellt. Scheinbar ratlos schrubbelt sie bei Interviews über ihr burschikos frisiertes Haar, mit gespielter Verwunderung – und grinst doch meist sehr selbstsicher dabei. „Boyfriend-Look“ heißt der Stil, der die Frau berühmt gemacht hat. Oder besser umgekehrt: Die Frau hat dem Stil zu Ruhm verholfen. Tank-Tops und Schulterpolster statt zierliche Spaghettiträger.
Stromlinien-Stars wie Britney Spears sind total abgemeldet
Oft derbe Boots statt Stolper-Pumps. Gerne auch Augenringe statt Apfelbäckchen. Und alle wollen plötzlich sein wie sie: Agyness Deyn (sprich: Ägnäs Diehn) gilt als Ikone des Hier und Jetzt, als das raketenheißeste Geschöpf des Mode- Boulevards seit Kate Moss. Irgendwo zwischen Top-Model, Stil-Stifterin, Spitzenverdienerin und Rotzgöre im Blitzlichtgewitter bewegt sich das Berufsbild der Britin – und viele stellen sich mittlerweile die selben Fragen wie sie: „Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte sie es so weit schaffen? Warum?“
Die Antwort ist ziemlich offensichtlich: Weil sie eigenwillig ist und ein paar Regeln bricht, wenn auch in wohl dosiertem Maß – oft und auffällig genug, um interessant zu sein, aber doch so kontrolliert, dass sie nicht als „Freak“ verlacht wird. Look und Lebensstil bilden bei Miss Deyn augenscheinlich eine Einheit, und das verschafft ihr Glaubwürdigkeit. Auch wenn sie für Armani, Boss, Burberry und Anna Sui „läuft“: Ihren derben Manchester-Akzent hat sie nicht verloren, vom Fahrradfahren („Ist mir lieber als in Taxis zu sitzen“) holt sie sich manchmal blaue Flecke und vom Trinken („So sind wir Nordengländer eben“) öfters einen dicken Kopf. Instinktsicher und punktgenau rebelliert das platinblonde Publicity-Wunder gegen die aalglatte Ästhetik des Betriebs, streut hier und da glamouröse Gerüchte über durchzechte Nächte und Punk- Poster in ihrem Schlafzimmer.
Eigensinn ist nicht ohne Risiko: Stärke ruft auch Neider hervor
Und das Publikum studiert verwundert, aber begeistert ihre oft kantige Oberfläche. Brav sein? Gehört nicht zu den hervorstechenden Eigenschaften der Deyn. Die Faszination für Exzentrikerinnen ist dieser Tage groß, vor allem in der Pop- Kultur. Abgemeldet erscheinen geölte Hit-Maschinen wie Britney Spears, Jessica Simpson oder Jeannette Biedermann. Tausendfach fotografiert wird gewichtige Sängerin der Band „The Gossip“.
Ditto packt ihren Körper in schulterfreie Cocktailkleider, die sonst nur pastellfarbene Prinzesschen tragen – und bricht brutal mit unseren Sehgewohnheiten. „Scharf wie eine Bleistiftspitze“, urteilte unlängst das amerikanische „Glamour“-Magazin. Begeisterung auch für Lady Gaga, das Pop-Genie aus New York City, das derzeit weltweit die Charts stürmt: Ihre Songs schreibt sie selbst – und scheut sich nicht, ihren Verstand gnadenlos vorzuführen. „Nennen Sie mich ruhig arrogant“, sagt Gaga, die eigentlich Stefani Germanotta heißt, und zählt ihre Idole und Vorbilder auf: Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Brancusi, David Bowie – lauter künstlerisch-intellektuelle Schwergewichte. „Wenn ein Mann stark ist, ist das normal. Wenn du als Frau selbstbewusst bist, heißt es gleich: Zicke“, weiß die 23-Jährige.
Den Eigensinn nicht nur in sich zu spüren, als Magengrummeln oder als die sprichwörtlichen „Hummeln im Hintern“, sondern ihn auch auszuleben: Das erfordert Mut. Wer ausschert aus der Gruppe, sei es die Familie, die Clique, der Kolleginnen-Kreis, lenkt die Scheinwerfer auf sich, erhält Aufmerksamkeit – geht aber auch das Risiko ein, andere zu irritieren. „Sie braucht immer eine Extrawurst“, heißt es schnell. Oder: „Sie ist ein notorischer Trotzkopf.“ Oder: „Sie muss immer im Mittelpunkt stehen.“ Wenn Sie bei solchen Sätzen einmal ganz tief in sich hineinlauschen, dem Echo nachspüren ... was hören Sie dann? Finden Sie nicht, dass Sie in Wahrheit genau dort hingehören: in den Mittelpunkt?
Alle Scheinwerfer auf Sie: besser eine Diva sein als eine graue Maus
Wenn schon nicht ins Zentrum des Show-Geschäfts, wie Deyn, Ditto und Gaga, dann doch ins Scheinwerferlicht ihres eigenen Lebens? „Als ,graue Maus‘ wird ein unauffälliger Mensch meist weiblichen Geschlechts bezeichnet“, heißt es im Internet-Lexikon Wikipedia. Rufen Sie bei dieser Formulierung: „Hallo, das bin ich!“ – oder denken Sie: „Puh, ist das öde“? Wenn Letzteres der Fall ist: Gratulation! Sie haben den ersten Schritt getan, der Star Ihres eigenen Lebens zu sein.
IN JEDER VON UNS STECKT EINE EXZENTRIKERIN!
„Selbstliebe ist nicht alles, aber ohne Selbstliebe ist alles nichts“, sagt Holger Reichard, Autor des soeben erschienenen Buches „111 Gründe sich selbst zu lieben. Eine kleine Verbeugung vor der eigenen Großartigkeit“ (Schwarzkopf & Schwarzkopf, 288 Seiten, 9,90 Euro). Zwar ist Reichard ein Mann, doch beschäftigt er sich ausgiebig mit dem eigenen Spiegelbild, ein Hobby, das traditionell als Frauensache gilt – und er führt einen berühmten Film-Exzentriker an, den eigenwilligen Großen Lebowski aus dem gleichnamigen Hollywood-Film mit Jeff Bridges: „Wir können es so machen wie er: einen Papierstreifen an den Spiegelrand kleben, auf dem in großen Buchstaben steht ,Man of the year‘.“ Ja, Männer haben uns in Sachen „Eigensinn“ noch einiges voraus. Selbst rüdes Benehmen (auf dem Sportplatz), Totalpetras ausfälle (in politischen Debatten) und Drogen-Exzesse (in Hollywood) werden ihnen nicht nur schnell verziehen – sondern verklären sie zu „Helden“, „Rebellen“, „Querdenkern“.
Nur ein Reifen mit starkem Profil kommt sicher über die Schotterpisten, die das Leben einem vor die Füße legt. Zu verstärktem „Selbst-Marketing“ raten heute zahlreiche Job-Coaches – gerade in Zeiten der Krise. „Mehr Mut zum Ich. Sei Du selbst und lebe glücklicher“ heißt auch der aktuelle Ratgeber der Psychologin Monika Matschnig (Gräfe & Unzer, 144 Seiten, 19,90 Euro). „Authentizität“ ist dabei das Schlüsselwort. Dazu gehört, dass man „sich genauso gibt, wie man wirklich ist und offen und ehrlich zu seiner Persönlichkeit steht“, sagt Matschnig. Zu den von ihr propagierten „Glaubenssätzen“ zählt dieser: „Ich bin okay, auch wenn jemand unzufrieden mit mir ist. Ich darf es auch mir recht machen. Ich erhalte mehr Respekt und Wertschätzung, wenn ich öfter mal Nein sage.“
Das gilt übrigens nicht nur für den Job, sondern auch bei der Partnersuche. Schluss mit dem Vorurteil, Männer hätten „Angst“ vor eigenwilligen Frauen – sagt ausgerechnet ein Mann, der Journalist Martin Fraas, Autor des Buches „Die Diva-Taktik. Warum starke Frauen bei Männern ein leichtes Spiel haben“ (Lübbe, 157 S., 8,95 Euro). Eine gewisse Dosis Divenhaftigkeit stehe jeder gut, schreibt Fraas.
Denn ein erwachsener Mann – und nur so einer kommt als Partner ja in Frage, oder? – wolle ein Gegenüber auf Augenhöhe. Nichts sei unattraktiver als ein ewig Ja-sagendes Mäuschen, ob in Grau oder Feuerrot gekleidet. „Jeder große Erfolg ist ein Triumph des Eigensinns“, lautet ein bekanntes geflügeltes Wort. Also: Kritzeln Sie sich das doch einfach hinter Ihre herrlich einzigartigen Ohren.