
Letzten Dienstag passierte es zum ersten Mal: Maja stand mit einer Freundin am Tresen eines neuen Clubs, der Barkeeper guckte sie an und fragte: „Und was bekommen Sie?“ Da war es, das erste „Sie“, das gnadenlose Zeichen des Älterwerdens. Kein solidarisches „Was möchtest du?“, kein gleichgestelltes „Kriegste schon?“, nein, Maja war ab sofort „Sie“. Eine andere Generation. Die Generation der „Alten“, der Erwachsenen, der Steuerzahler und Nordic Walker – dabei war sie gerade erst 30 Jahre alt geworden.
Maja bestellte noch sehr viele Getränke als „Sie“, um das erste „Sie“ ihres Lebens zu ertränken. Im Club nicht mehr geduzt zu werden rangiert im „Hilfe, ich bin nicht mehr zwanzig“-Ranking gleich hinter „Von H&M-Verkäuferinnen gesiezt“ und „Von 16-Jährigen als ‚Sie‘ um Feuer gebeten werden“ – obwohl die die gleichen Chucks tragen. Und es gibt noch mehr Zeichen, dass man sich auf dem Sprung vom Twen zum Thirty- Something befindet: „Früher habe ich meinen Freund immer gefragt, ob mich hübscher als eine andere findet. Heute löchere ich ihn, ob ich JÜNGER oder ÄLTER als sie aussehe“, sagt Maja. Der Wandel von der Beck’s-Gold zur Botox-Konsumentin kommt schleichend, aber deutlich.
Nicht nur die DSDS-Kandidaten, auch Vorgesetzte, Bankberater und sogar Minister sind plötzlich jünger als man selbst. Statt beim Shoppen nach grellen T-Shirts, hüfttiefen Adidas-Trainingspants und Superslim-Destroyed-Jeans zu greifen, erwischt man sich dabei, sich nach gut geschnittenen Designer- Blazern und sauteuren Peep-Toes umzugucken – und sie sich auch leisten zu können. Man kauft nicht mehr hundert Tüten voll bei H&M, sondern einzelne Stücke bei Gucci, Prada oder style bop.com. Männer kriegen beim Flirt den Panikblick, haben Angst, dass man ein Torschluss-Kind von ihnen will und sie sofort vor den Traualtar zerren möchte. Oder man rutscht bei den Kerlen in ein anderes Beuteschema: Plötzlich lächeln einen 50- bis 60-jährige Best-Ager mit grauem oder gar keinem Haar und blendenden Zahnbrücken an, sie zwinkern einem zu und halten den Flirt tatsächlich für angemessen. Auf einmal interessiert man sich verstohlen für Faltencremes, die das Etikett „für die Haut ab 30“ tragen – und gewöhnt sich langsam die Aok-„First Beauty“-Linie ab.
„Älterwerden ist nichts für Weicheier“, das wusste schon die Filmdiva Bette Davis. Aber was ist eigentlich so schlimm daran, nicht ewig Mitte 20 zu sein? „Ich bin einfach irgendwie davon ausgegangen, immer 28 zu bleiben“, sagt Maja. „Älterwerden – das passiert anderen, aber doch nicht mir! Plötzlich gesiezt zu werden war wie ein Schock für mich.“ „Bis Mitte 30 hat man noch Gnadenfrist – danach wird’s ernst“, sagt auch Bettina, 35, Grafikerin. „Auf einmal muss man etwas erreicht haben, einen Plan, ein Ziel – und möglichst auch noch eine Eigentumswohnung besitzen.“ Die Regale in den Buchhandlungen sind prall gefüllt mit tröstenden Ratgebern mit Titeln wie „Frauen werden nicht älter, sondern besser“, „Überleben ab 30“ oder „Ich bin keine Zahl“. Keiner davon hilft, denn irgendwie möchte man die „Du“-Zeit nicht loslassen. „Du“, das bedeutet noch jede Menge Zeit, jede Menge Möglichkeiten. „Du“ bedeutet, die Nächte durchtanzen zu können und dennoch morgens frisch aufzuwachen. Unverbindlichkeit, Faltenfreiheit, Kraft. Attribute, die nun durch „Lebenserfahrung“, „Selbsterkenntnis“ und „Wellness-Urlaub“ ersetzt werden sollen? Nicht sehr reizvoll... Aber wie kann man das „Du“ halten? Wie schafft man es, auch noch als Best-Agerin cool, lässig und souverän zu bleiben, ohne sich zur Berufsjugendlichen zu machen? Die Antwort ist: Jugendlichkeit hat nichts mit dem Alter zu tun. Es stimmt, dass man so alt ist, wie man sich fühlt.
Aber es stimmt auch, dass man in Nieten- Jeans und Neon-Shirts irgendwann lächerlich aussieht. Die Attribute der Jugend liegen woanders. Sich Frechheit, Flexibilität, Neugierde und Lässigkeit zu bewahren ist vermutlich wichtiger, als mit 38 ein glatteres Gesicht zu haben als eine 24-Jährige. Zwischen 30 und 40 haben Frauen ihre stärkste Schaffensphase. Und wenn 40 das neue 30 ist, ist 30 logischerweise das neue 20. Also: Auf geht’s!
Barbara, 33 Jahre, Finanzmaklerin
„Ausstrahlung ist der beste Concealer!“

„Nächstes Wochenende fahre ich nach Berlin, um bei einem Catwalktraining mitzumachen. Ich habe Glück gehabt, eigentlich war das Höchstalter für die Teilnahme 30 Jahre... So fühlt sich das also an, wenn man eigentlich zu alt für eine Sache ist. Dabei habe ich jetzt erst mit dem Modeln angefangen, nur so zum Spaß und als Gegenpol zu meinem anstrengenden Leben als Versicherungs- und Finanzberaterin und alleinerziehende Mutter. Mit 24 bin ich ungeplant mitten im Studium schwanger geworden. Ich musste deshalb auf vieles verzichten, was für andere selbstverständlich war – aber ich hole das jetzt langsam nach: Ich mache mehr Sport und gehe öfter aus. Die Abende, an denen ich mit meiner besten Freundin an der Bar hänge und quatsche, genieße ich sehr. Ich empfinde mich schöner als mit Anfang 20 und habe meinen Körper inzwischen wirklich gern. Natürlich spüre ich die Erschöpfung nach einer langen Nacht heute mehr als mit Mitte 20. Und leider sieht man sie mir auch mehr an, ich sage nur – Augenringe. Aber Ausstrahlung ist der beste Concealer. Ich bin selbstbewusster geworden, und das kommt gut an. ‚Ich habe beschlossen, eine Familie zu heiraten‘, sagte mir mal ein Mann. ‚Wen denn?‘ ‚Na, dich und deinen Sohn Yul‘, erwiderte er. Ein nettes Angebot, das ich dankend ablehnte. Ich weiß mittlerweile besser, worauf es ankommt, und wähle sorgfältiger aus. Solange es nicht hundertprozentig passt, bleibe ich lieber Single – auch meinem Sohn zuliebe. Im Job bin ich zielorientierter geworden. Ich möchte ein Team aus tollen Frauen aufbauen, das Konzeptberatung für Frauen anbietet. Das ist nicht leicht in einer Männerdomäne. Aber ich habe aus meinen Erfahrungen gelernt. Das hat man als Frau über 30 den Jungen meist voraus.“
Natascha, 37 Jahre, Inhaberin einer Castingagentur
„Oft baggern mich Jungs um die 25 an – süß!“

„Bald bin ich 40. Wenn ich dann noch nicht verheiratet bin und keine Kinder habe, will ich es wenigstens beruflich geschafft haben. Deshalb habe ich mich gerade mit meiner Agentur selbstständig gemacht und gebe Camera-Acting-Workshops. Anfangs siezen mich meine Schüler immer, und ich sage dann, dass sie schwer Ärger mit mir bekommen, wenn sie das noch mal tun – und schnell ist man beim ‚du‘. Ich bin sehr ignorant, was mein Alter angeht, obwohl ich mich schon manchmal frage, ob man in meinem Alter noch Latzhosen und Zöpfe tragen kann. Ich tu’s trotzdem und fühle mich sauwohl damit. Nur manchmal bekomme ich schlechte Laune. Das Licht in der Umkleide von H&M ist so eine Frechheit, dass man den Laden verklagen müsste. Obwohl ich fast täglich Yoga und Pilates mache, verändert sich mein Körper. Im Gegensatz zu früher purzeln die Pfunde nicht mehr so schnell, und der Weg zur Bikinifigur wird jedes Jahr härter. Außerdem wird es immer schwieriger, einen Mann kennenzulernen. Die Guten sind schon vergeben, der Rest hat eine Schraube locker oder sieht alt und unförmig aus. Oft baggern mich Jungs um die 25 an – sehr süß. Das schmeichelt mir zwar, doch ich brauche einen Mann auf Augenhöhe. Ich würde gern wieder jeden Morgen neben jemandem aufwachen. Mit 30 wollte ich eigentlich schon einen bunten Kinderstall haben – das hat nicht ganz hingehauen. Aber ich bleibe gelassen und denke: Es kommt, wie es kommt.“
Ulrike, 35, Krankenschwester und angehende Kunstlehrerin
„Bauchfreie Tops sind das Privileg junger Frauen“

„Eine jüngere Kollegin wollte kürzlich von mir wissen, was sich ab 30 ändert. ‚Man ist selbstbewusster und entspannter‘, habe ich geantwortet. Ich möchte kein Jahr hergeben, das ich erlebt habe. So gut wie heute habe ich mich noch nie in meinem Körper gefühlt, obwohl er vor zehn Jahren eindeutig besser aussah. Okay, Minirock trage ich – wenn überhaupt – nur noch mit Leggings, und kurze Kleider und bauchfreie Tops halte ich für ein Privileg junger Frauen. Vor ein paar Wochen wurde ich beim Ausgehen von einem 33-jährigen Mann auf 25 geschätzt – mit der Begründung, ich hätte ein gutes Körpergefühl und würde mich beim Tanzen nicht bewegen wie eine 35-Jährige. Ich fand das echt lustig. Tja, Männer kapieren so einiges nicht. Die wissen gar nicht, was ihnen entgeht, wenn sie auf junge Hühner abfahren. Von Patienten werde ich häufig gefragt, ob ich Kinder hätte. Wenn ich verneine, höre ich oft: ‚Ach, Sie sind ja noch jung.‘ Meist sage ich dann, dass ich schon Mitte 30 sei, und ernte ungläubiges Staunen. Trotzdem weiß ich, dass ich (optisch) meinen Zenit überschritten habe. Und während ich noch immer das Leben einer Endzwanzigerin führe, sind fast alle meine Freundinnen ins Familienleben abgetaucht. Aber noch genieße ich es, frei zu sein und mich nur um mich kümmern zu müssen.“
Yvonne, 32, Sales Managerin
„Waffeleisen statt Club? Finde ich super“

„Letzten Mittwoch wurde mir klar, dass ich schon zur Generation der ‚Alten‘ gehöre. In einem Meeting wurde in einem Film ein analoges Internet-Modem eingeblendet, und ein Großteil der Teilnehmer – alle unter 30 – kannte die langsamen Dinger gar nicht mehr. Auch privat merke ich den Wandel. Jahrelang tobte ich als Single durch die Clubs und ernährte mich von Toastbrot und Tütensuppen. Jetzt beschränkt sich mein wildes Leben auf Bötchen fahren und Brunch mit Kleinkindern. Zu meinem letzten Geburtstag bekam ich von meinen Freundinnen ein Waffeleisen. Langweilig? Keine Spur. Ich habe auch so Spaß, nur eben anders. Das hängt auch damit zusammen, dass ich seit zwei Jahren einen Freund habe. Auf einmal macht es mir Spaß zu kochen. Meinen Sportflitzer habe ich gerade gegen einen Fünftürer getauscht, da passen auch meine Mamafreundinnen plus Kids und Spielzeug rein. Ich fühle mich gut als Thirty-Something. Ich mag es, im Job nicht mehr ‚die Kleine‘ zu sein, sondern eine gestandene Frau mit Verantwortung. Die Nebenwirkungen gefallen mir weniger: Jedes neue Fältchen wird sofort mit einem wachsenden Arsenal an hautstraffenden Cremes bekämpft. Alles kein Thema für die trendigen Mädels, die letzten Samstag neben uns im Park grillten. ‚Guck dir die mal an‘, sagte meine Freundin. ‚Ich glaub, ich muss erst shoppen gehen, bevor ich mich wieder in die Disco traue.‘ Ach nö, dachte ich. Viel zu anstrengend.“