
"Süße, hab hier gerade ein Café entdeckt und würde jetzt sooo gern mit dir einen Kaffee trinken. Du fehlst mir!" Ich lächle, lege mein Handy zurück auf den Frühstückstisch und nehme noch einen letzten Schluck Kaffee. Er ist kalt. Auch ich würde mich jetzt am liebsten zu Maike beamen, nur für ein Viertelstündchen, vor der Arbeit, und mit ihr bequatschen, was heute so ansteht. Stattdessen nur eine kurze Botschaft zurück: „Jaaa, das wäre fein, meine Liebe. Holen wir ganz bald nach. Ich drück dich!“ Seit dreieinhalb Jahren wohnt Maike in Israel, genauer gesagt: in Tel Aviv.
Ich weiß noch, wie sie anrief, sie stand vor ihrem Briefkasten in Berlin und hatte den positiven Bescheid ihres neuen Arbeitgebers in der Hand. Wir jubelten beide in die Leitung, malten uns aus, wie es sich wohl anfühlt, wenn sie so weit weggeht: was sie alles erleben würde, wem sie es als Nächstes erzählt und wie unwirklich es ist, dass die zehn Zeilen auf dünnem Papier jetzt holterdiepolter ihr Leben umschmeißen. Dass zwischen uns künftig nicht mehr 300, sondern 3000 Kilometer liegen würden, war bei all der Euphorie kein Thema. Klar, dass ich mich für sie freute. Und dass die Distanz zwischen zwei Freundinnen keine Rolle bei der Karriereplanung spielen sollte. Obwohl – wäre es der Partner, den man zurücklässt, würden Nächte durchgegrübelt, Tränen vergossen, Für und Wider abgewogen. Beste Freundinnen tun das nicht. Sie bestärken die andere in ihren Plänen, reden ihr Mut zu, winken am Flughafen – und haben fortan eine Fernfreundin mehr.
Fernbeziehungen überall
Jede sechste bis siebte Partnerschaft in Deutschland ist heute eine Fernbeziehung. Wie viele Fernfreundschaften es da erst geben mag, hat noch keiner erhoben. „Die Bereitschaft, in allen Lebenslagen flexibel und mobil zu sein, ist jedenfalls so hoch wie nie“, sagt Diplom-Theologe und Therapeut Peter Wendl, der seinen erfolgreichen Ratgeber „Gelingende Fernbeziehung“ (Herder Verlag) derzeit um ein Kapitel zur Fernfreundschaft erweitert. „Gleichzeitig sind enge Freunde aber ganz entscheidend für die Lebenszufriedenheit.“ Erstaunlich also, dass wir jemanden, der unsere geheimen Wünsche kennt, unseren Liebeskummer ertragen und mit uns die Welt bereist hat, bei erstbester Gelegenheit zurücklassen.
Maike und ich kennen uns seit der Schulzeit. Damals haben wir zusammen gefeiert und geschwärmt, gelacht und geheult, gezeltet und gejobbt, fürs Abi gebüffelt und selbiges schließlich gründlich begossen. Im Studium trennten sich erstmals unsere Wege, wenn auch nur innerhalb Norddeutschlands. Abends noch mal eben rumkommen, kurz in den Arm nehmen, den Alltag teilen – das war trotzdem vorbei. Unsere Verbundenheit zum Glück aber nicht. Wenn die Uni es zuließ, besuchten wir uns über das Wochenende und erkundeten die Stadt der anderen. Lernten hinzugewonnene Lieblingscafés, Lover und neue Lebenswelten kennen. Und: neue Nahfreunde – solche, die sehr wohl spontan mit Maike kochen konnten, mit meiner Freundin auf der Couch abhingen und die Clubs eroberten.
Nicht selten war ich insgeheim eifersüchtig: darauf, dass diese Fremden plötzlich in alles eingeweiht wurden, schneller von einem Flirt erfuhren und mich beim gemütlichen Brunch ersetzten. Nur, weil sie jetzt näher dran waren. Dabei traf ich mich ja ganz genauso mit Kommilitonen, netten Kolleginnen, Sportfreundinnen. Und ich begann zu begreifen, dass eben beides seinen Wert hat: die Abschnittsfreund- und -bekanntschaften für einen erfüllten Alltag; und die tiefere Verbundenheit mit der Fernfreundin. „Nichts hält eine Fernfreundschaft besser zusammen als eine gemeinsame Vergangenheit“, sagt Peter Wendl. „Wer eine prägende Zeit miteinander verbracht hat, braucht die örtliche Nähe auf Dauer nicht zwingend.“
Vorausgesetzt, man verliert sich nicht in Erinnerungen, sondern schafft hin und wieder auch neue, einander verbindende Ereignisse. Zum Beispiel, indem man ein bis zwei Mal im Jahr etwas gemeinsam unternimmt – inklusive Übernachtung, damit nicht nur Zeit für schnellen Small Talk bleibt, sondern für richtig gute Gespräche, gemeinsam geleerte Weinflaschen und durchgequatschte Nächte.
Noch ein Aspekt, der mir die Fernfreundin näher bringt: Gemeinsame Zukunftsperspektiven. „Im Gegensatz zur Fernbeziehung brauchen Fernfreundinnen zwar nicht die Gewissheit, dass sie eines Tages wieder Tür an Tür wohnen“, so Wendl Aber sie sollten nicht aufhören, Pläne zu schmieden und ihre Rituale zu pflegen – sei es auch seltener als früher. „Unersetzlich sind außerdem regelmäßige Wasserstandsmeldungen“, sagt der Wissenschaftler. Einmal im Monat braucht die Fernfreundschaft deshalb ein Update: am besten durch ein Telefonat, bei dem auch Zeit für Banales bleibt. Und bei dem man schlechte Neuigkeiten nicht ausspart, nur, weil sie für ein schönes Gespräch zu unbequem sind. „Es muss zwar nicht jede Kleinigkeit aus den letzten Wochen durchgekaut werden“, so Wendl. Aber der Alltag der Freundin lebt nicht nur von Highlights und irren Storys, sondern auch davon, welches Buch sie liest, mit wem sie sich so getroffen hat und dass sie gerade ganz schön verschnupft ist.
Freundschaften im Zeitalter des Internets
Auch eine schnelle SMS aus der U-Bahn, ein Eintrag auf Facebook und die gute alte Postkarte sorgen für kurze Momente der Nähe – und für die Gewissheit, dass die andere auch aus der Ferne an einen denkt. Mit dem Umzug nach Israel begann für Maike und mich ein neues Kapitel der Fernfreundschaft: Nicht nur, weil sich die Distanz noch mal drastisch erhöhte und selbst die Mädchen-Wochenenden ein Ende nahmen. Unserer beider Leben veränderte sich auch sonst recht rasant. Einmal rief ich sie im Büro an, bat sie, ihre Mails gleich zu checken und schickte ihr ein Foto rüber. Es war das erste Ultraschallbild meines Babys, und Maike wäre fast vom Bürostuhl gefallen, bevor sie vor Freude zu kreischen anfing. Dieser Moment ist bei mir haften geblieben. Und auch, wenn ich ihr die frohe Botschaft lieber face-to-face überbracht hätte, so war es doch eine wirklich würdige Alternative.
Wendl: „Liebe Umarmungen wird man zwar durch nichts ersetzen können. Das müssen im Zweifel andere Freunde übernehmen.“ Aber noch unersetzlicher als physische Nähe sei das sogenannte Notfallwissen. Meine Freundin kann noch so viele Flugstunden entfernt sein – solange ich weiß, dass sie zu mir kommt, falls die Bude brennt: wenn ein naher Angehöriger stirbt, eine Beziehung zerbricht oder die Nerven blank liegen. Existiert diese Gewissheit, wird eine Fernfreundschaft nicht zerbrechen, selbst wenn der stressige Job wieder viel zu lange für Funkstille gesorgt hat – oder die Nahfreunde eine Zeit lang irgendwie wichtiger waren.
Vor ein paar Wochen ist Maike zurück nach Deutschland gezogen. Nicht in meine Nachbarschaft, aber wieder viel, viel erreichbarer. Das Schönste am Wiedersehen war aber nicht, einander endlich wieder live und in Farbe zu treffen. Sondern festzustellen, dass sich zwischen uns rein gar nichts verändert hat. Fernfreundschaft hin oder her.
Was sie zusammenschweißt
- Wer das gemeinsame Kaffeetrinken vermisst, nimmt den Laptop mit ins Café und setzt die Freundin per Webcam dazu.
- Ich denk an dich“: Es braucht gerade mal eine halbe SMS, um Nähe zu stiften.
- Mal ganz woanders treffen: Neue Erlebnisse und Entdeckungen verbinden.
- Schönes Geschenk: Die gesamte Mailkorrespondenz ausdrucken und als Tagebuch einer Freundschaft bündeln.
- Die Formel für funktionierende Fernfreundschaften: Vertrautheit + Vertrauen+ Kritikfähigkeit+ Engagement + Zeit = LOVE
– und was sie entfremdet
- Lieber gar nicht anrufen, als zwei Stunden zu blocken, weil sich so viel angestaut hat? Das ist die falsche Strategie.
- Kommunikation ist alles. Konflikte offen ansprechen, statt beleidigt zu schmollen & eine Funkstille zu forcieren.
- Die Gefühle nicht vergessen: Wer nur Rapport erstattet, bleibt sich nicht nah.
- Lieber in eine Fernfreundschaft investieren, als es mit vielen zu probieren. Sonst wird man am Ende keiner gerecht.
- Konkret planen, statt nur drüber zu reden:
- Persönliche Treffen sind unerlässlich.
„Der Redebedarf ist riesig“
WENN IRINA LANGE, 29, FREUNDSCHAFTSGEFÜHLE AUFTANKEN WILL, FÄHRT SIE EINFACH IN IHRE HEIMAT. DORT WOHNEN ALL IHRE LIEBEN – BLOSS SIE NICHT
WANN SEHE ICH WEN WO? Wenn ich übers Wochenende mal zu meiner Familie nach Wuppertal fahre, stehen gleich vier enge Freundinnen auf meinem Zettel. Ich will unbedingt alle sehen und jeder gerecht werden. Doch dazu gehört schon einiges an Zeitmanagement. Es soll ja kein Hast-du-schon-gehört-Hopping werden, sondern ein Treffen mit der nötigen Tiefe. Alle an einem Tisch zu versammeln ist deshalb auch keine Dauerlösung. Am liebsten gehe ich zu zweit spazieren, shoppen, oder wir kochen etwas zusammen – Hauptsache, wir kommen ausreichend zum Quatschen. Irgendwie sind alle zu Hause hängen geblieben – bloß ich bin vor vier Jahren nach Hamburg gezogen. Umso mehr packt mich manchmal das Heimweh, wenn ich nach ein paar vertrauten Tagen wieder in den Zug zurücksteige. Klar, wir telefonieren regelmäßig. Aber manchmal bin ich nach der Arbeit auch maulfaul. Doch nach einem guten Gespräch ärgere ich mich dann wieder, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Der Redebedarf wird ja auch nicht gerade kleiner – erst recht nicht, wenn man sich mehreren Fernfreundinnen mitteilen will. Seit einem knappen Jahr habe ich nun auch noch eine Fernbeziehung. An freien Tagen muss ich mich also entscheiden, ob ich verliebte Zweisamkeit, lustigen Mädchentreff oder Hamburger Freundeprogramm haben möchte. Ganz schön kompliziert – aber ich bin sehr froh, dass es sie alle gibt!
„Wir gehören doch zusammen“
IHRE FREUNDSCHAFT IST INTENSIV, ABER NICHT NAH: STEFANIE KÜHN, 30, HÄTTE GERN EINEN WUNSCH FREI – UM IHRE LIEBSTE FREUNDIN ZURÜCKZUBEAMEN
MIT WENIG ANLAUF SOFORT IN DIE TIEFE – das zeichnet die Gespräche mit meiner Freundin Sepideh aus. Sie forscht in Berkeley, ich arbeite in Hamburg. Wenn wir uns sprechen, dann nur mit Kamera – schließlich will ich mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihr gut geht, wie sie die Haare gerade hat, was ihr Gesicht sagt. Wenn wir beide uns mit Teetasse auf der Couch fläzen, fühlt es sich ein bisschen so an, als wären wir im gleichen Raum – auch, wenn es nur ein virtueller ist. Für Banalitäten haben wir wenig Zeit. Wir sind direkt, sprechen Unbehagliches aus, reden viel über Gefühle, Pläne, Familie. Und übers Yoga: Das ist unsere gemeinsame Leidenschaft, die uns trotz der Distanz verbindet. Wir sind jetzt schon über fünf Jahre getrennt, kennen uns aber seit der Schule. Erst ging Sepideh nur nach Paris, da konnte ich sie manchmal besuchen. Kalifornien war schon ein größerer Schock – obwohl wir die Stelle gemeinsam ausgekundschaftet hatten. Immer, wenn ich in den vergangenen Jahren Single war, habe ich überlegt, ihr vielleicht zu folgen. Mir fehlen die Mädchen-Aktionen mit ihr: zusammen shoppen, in der Umkleidekabine rumalbern, abends ausgehen. Ich dachte immer, wir werden zusammen alt. Meine größte Befürchtung ist, dass sie sich in einen Amerikaner verliebt und nie mehr zurückkommt. Und dass unsere zukünftigen Kinder dann keine gemeinsame Sprache haben. Aber wie es kommt: Unsere Freundschaft wird immer wertvoll sein.