
Der Schaukelstuhl knarzt schon ein wenig, davor sitzt die Enkelin mit roten Wangen und lauscht einer Liebesgeschichte, die schöner nicht sein könnte. „Und da stand dein Opa vor der Tür: klitschnass vom Regen, mit einem Strauß Blumen, die er in unserem Garten stibitzt hatte, und auf seinen Lippen dieses Lächeln, das ich noch immer so sehr liebe. Er hat damals nicht locker gelassen, bis er meinen Namen herausgekriegt und mich gefunden hatte ...“ Hach ja. Schmacht vom Feinsten. Und zwar nicht gefakt für einen Film, sondern aus dem Leben gegriffen.
So soll es doch sein, wenn man den Mann fürs Leben kennenlernt, oder? Er muss ja nicht gleich als Prinz auf dem Schimmel daherkommen. Und ganz so kitschig wie im Märchen muss es auch nicht zugehen. Aber mystisch sollte der Moment sein. Mit einem Sirren in der Luft und dem beiderseitigen Wissen: Die Suche ist beendet – jetzt fängt die wahre Liebe an. Dumm nur, wenn der Moment noch immer auf sich warten lässt. Wenn der Prinz sich einmal zu oft als Ferienflop, Langzeitlangweiler oder zukunftslose Affäre entpuppte. Oder man sich in das eigene Vorankommen so vertieft hat, dass das „Ich wär’ dann so weit“ irgendwie keiner gehört hat. Jetzt flackern schon ziemlich viele Kerzen auf der Geburtstagstorte – und Mister Big hat offenbar immer noch Wichtigeres zu tun, als uns zu entdecken. Aber dem Schicksal auf die Sprünge helfen? Das widerspricht ja irgendwie dem Wortsinn. Und liefert keine gute Lovestory für die Enkel.
Der Trend zeigt trotzdem, dass 30- bis 40- Jährige sehr viel systematischer an die Partnersuche gehen, als sie es sich ein paar Jahre vorher noch hätten träumen lassen. Einfach weil Gelegenheit nun mal keine Liebe macht, wenn die Zeit zu knapp und der Tag mit Arbeit vollgepackt ist. Und weil wir es leid sind, immer wieder von vorn anzufangen, Pläne aufzuschieben, dem Partner in die Puschen zu helfen, damit auch er irgendwann mal so weit ist – emotional und finanziell. Vor fünf Jahren war es ja noch ansatzweise süß, wenn der Kerl sich wie das Kind benahm, das man jetzt gern von ihm hätte. Mit ihm das Sparschwein zu knacken und die Welt zu bereisen, das hatte eindeutig mehr Sex, als tüchtig aufs Gemeinschaftskonto einzuzahlen, damit mal was Nachhaltiges dabei herumkommt. Und wenn damals unterwegs jemand Cooleres daherkam, wurde eben umgesattelt, selbst wenn auch der nicht als „Dauermann“ taugte. Unvernünftig, wild und experimentierfreudig zu sein, das war halt aufregend, kitzelte und engte nicht ein. Aber je mehr Beziehungen in die Brüche gehen, je mehr wir uns weiterentwickeln und je deutlicher die eigenen Ziele werden, desto besser wissen wir auch, was wir von einer Partnerschaft wollen, wer offensichtlich nicht in den Plan passt, was uns langfristig guttut und wer uns nur mal kurz kickt.
Kein Wunder, dass mittlerweile 5,5 Millionen deutsche Singles auf die Matching-Instrumente im Internet anspringen, statt sich vom Schicksal vertrösten zu lassen. Auf Portalen zur Partnersuche lässt sich schließlich ganz genau angeben, wie es um den Mann fürs Leben bestellt sein soll: Per Persönlichkeitstest und exakten Suchkriterien packt man potenzielle Traumpartner in den Warenkorb, die auf den ersten Blick all das erfüllen, was man sich so vorstellt. Seine Ansichten kann man in Mails antesten, sein Aussehen vorab checken – und wenn alle Vernunfts kriterien ziehen, vorsichtig feststellen, ob es vielleicht funkt. Dann hat’s zwar anfangs „Klick“ statt „Zoom“ gemacht – aber besser eine vernünftige Anbandelung als gar keine. Knistern kann’s ja dann beim ersten Kuss auch noch.
Rationale Rasterfahndung als neue Romantikbewegung – etwas verquer, aber effektiv. „Das Prozedere bei der Partnersuche läuft ab einem gewissen Alter andersherum ab“, stellt auch Diplom-Psychologe Roland Kopp-Wichmann aus Heidelberg fest. Während Twens sich Hals über Kopf verlieben und erst nach Absetzen der rosaroten Brille bemerken, ob der Partner zu einem passt, sieht man in den Dreißigern lieber gleich der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht – und weiß, was man hat. Natürlich sollen und wollen auch sie sich verlieben, sich vom anderen angezogen fühlen und genießen, was die erste Zeit zu zweit zu bieten hat. Aber eben möglichst gleich mit dem Testsieger. Alles andere ist Zeitverschwendung, vergebene Liebesmüh, uneffektiv. Apropos: Effektivität sind wir aus dem Job ja eh gewöhnt. Wozu also warten und raten, wenn man schnell für Klarheit sorgen kann? Lernen wir heute jemanden kennen, ist nicht entscheidend, ob er Patrick, Paul oder Philipp heißt – Hauptsache, wir kriegen den Nachnamen heraus: um über Google seinen Arbeitgeber, bei Facebook seine Partyfotos und bei Twitter seinen Schreibstil sichten zu können. Modern Stalking könnte man es nennen. Beim Speed-Dating wird das rasante Abklopfen der Hardfacts erst recht zum Prinzip gemacht. Und wird im Freundeskreis gekuppelt, ist der Fragenkatalog auch schnell gezückt: Hat er Kinder, Exfrauen, Haustiere? Ist er noch WGler, wohnt bei Muttern, kann er kochen? Und was macht er beruflich: Nine-to-five oder Workaholic?
Früher beschränkte sich die Frage schlichtweg darauf, ob er geil aussieht. Soll die Harmonie bei der Partnersuche plötzlich entscheidender sein als die Hormone? Die Verträglichkeit wichtiger als das Verlangen – nur weil wir er- wachsener geworden sind? Das hört sich ja fast so pragmatisch an wie bei Großtante Gertrud, die immer noch gern mit Versorgerqualitäten argumentiert.
Darüber sind wir in Zeitender Gleichberechtigung natürlich hinaus. „Das Herz sollte schon lauter sprechen als die Vernunft.“ Für die Stabilitäteiner Beziehung ist die Ratioaber sehr förderlich, so Kopp- Wichmann. Denn egal, wo wir jemanden kennengelernt haben, ob wir verkuppelt, vermittelt oder von der Liebe überrascht wurden: Hat derjenige ähnliche Vorstellungen, denkt in den gleichen Bahnen und tickt irgendwie sowie man selbst, ist der Verträglichkeitsfaktor ungleich höher– und somit auch die Chanceauf eine alltagstaugliche Partnerschaft. Ähnlichkeit kann eine Beziehung haltbarer machen, weil man intuitiv weiß, wie der andere denkt und reagiert. „Drama hat dagegen zwar etwas sehr Aufregendes, ist aber auf Dauer aufreibend“, sagt der Psychologe.
Da kommen einem gleich ein paar Szenen in den Sinn: heiße Diskussionen um Nichtigkeiten, Stimmung, die hochkocht, vielleicht sogar ein paar fliegende Teller – aber auch leidenschaftliche Versöhnungen und eine enorme Anziehungskraft. Muss man wahrscheinlich mal mitgemacht haben, aber als Dauerzustand? Das brauchen die wenigsten. Vernünftig liebt dem Paartherapeuten zufolge aber nicht nur, wer sich eine Kopie seiner selbst sucht. „Stark ist eine Beziehung auch, wenn beide die Verschiedenheit des anderen akzeptieren und bereit sind, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu beachten.“ Wenn man es schafft, die Interessen und Wesensarten des anderen als Bereicherung zu begreifen; und hin und wieder Kompromisse eingeht, damit es weiterhin ein „Wir“ gibt. „Das gelingt in der Regel aber nur dem, der sich selbst gefunden hat, der selbstbewusst ist und stabil in sich ruht.“ Wieder ein Punkt, der für Ü30 spricht. Wir müssen keine Angst mehr haben, dass der andere uns in unserer Freiheit beschneidet, nur weil er sich mal mit dem Urlaubsziel durchsetzt. Wir brauchen nicht beleidigt zu sein, wenn er seinen Sport dem Serienabend vorzieht. Und uns nicht bevormundet fühlen, falls er mal für uns mitentscheidet. Ist doch mal angenehm, sich voll und ganz auf einen Menschen verlassen zu können. Kleine Fehler lieben zu lernen und nicht über alles gleich in Streit zu geraten.
Liebe in Zeiten der Vernunft ist weder leidenschaftslos noch langweilig, aber angenehm entspannt. Sie stellt nichts leichtfertig infrage, hält vieles aus und bedeutet keinen Verzicht – selbst wenn man nicht mehr nur sein eigenes Ding durchzieht.
„Eine Liebesbeziehung, die mit gewissen Erfahrungswerten einhergeht und nicht vollkommen kopflos eingegangen wurde, wird wahrscheinlich ein höheres Anspruchsniveau haben“, sagt Roland Kopp-Wichmann. Die Partner wüssten schließlich um das Risiko des Scheiterns. Sie möchten den Trennungsquoten trotzen und Gefühle nur investieren, wenn für beide feststeht, dass das, was sie haben, besonders ist – und möglichst so bleibt.
Wenn es um die Liebe geht, sind wir auf Sicherheit bedacht. Das hängt nicht nur mit dem Alter zusammen, mit dem berühmtberüchtigten Ticken – oder damit, dass das Angebot allmählich sinkt; es rührt auch aus gesellschaftlichen Tendenzen: Durch Finanzkrise, Umweltprobleme, Terror und Globalisierungsängste hat das Versprechen „Alles wird gut“ seine Gültigkeit verloren. Umso intensiver suchen wir unser Glück im Privaten. Verlässliches, gut gewähltes Glück, das nicht bei erstbester Gelegenheit die Biege macht. Glück im übrigen, das nicht zwangsläufig in ein Reihenhaus mit Golden Retriever und zwei Vorzeigekindern mündet. Genauso vernünftig kann es sein, sich jemanden zu suchen, der mit einem auswandert, eine Firma gründet, in den Tag hineinlebt, was immer auch geschieht. Hauptsache, man hat Lust, es zusammen zu tun. All das soll natürlich nicht bedeuten, dass Liebe auf den ersten Blick für Vierzigjährige nicht mehr existiert. Dass man sich mit Mitte dreißig zwingend ein Jahres-Abo bei einschlägigen Suchportalen zulegen muss. Oder dass man sich unverbindliche Flirts von vornherein abschminken sollte, weil eh nichts Festes daraus wird. Kopp-Wichmann: „Es lohnt sich immer, aufgeschlossen zu bleiben und für Zufälle offen zu sein.“ Seinen Kopf darf man immer dann dazuschalten, wenn sich anbahnt, dass man sich wieder mal auf den Typ Mann einlässt, der einen nicht glücklich macht. Oder wenn es sich lohnen könnte, noch einen zweiten oder dritten Blick zu wagen, bevor man einen Korb vergibt. Eines Tages, auf dem Schaukelstuhl, ist es egal, ob eine lange, erfüllte Liebe schicksalsträchtig begonnen hat, ob der Zufall es so wollte, was die Vernunft dazu beigetragen hat und ob dem Glück auf die Sprünge geholfen wurde. In jedem Fall wird der Geschichtenfundus für die Enkel groß genug sein – und muss nicht unbedingt das Kennenlern-Event des Jahrhunderts beinhalten.