
Vor Kurzem war ich auf einer Hochzeit: bei strahlendem Sonnenschein, mit lecker Essen und einer bildhübschen Braut. Einen Filmriss hatte ich hinterher nicht – trotzdem ist meine Erinnerung an das Event irgendwie eingeschränkt. Denn statt die Hauptperson vor meinem inneren Auge zu sehen – glücklich, verliebt und genial gestylt –, tanzt eine andere Frau durch meine Gedanken. Und ich könnte schwören, auch durch die aller anderen Gäste.
Ich hatte die Cousine des Bräutigams vorher noch nie gesehen. Sie ist auch kein Model oder so, hat eher ein paar Pfunde zu viel auf den Hüften. Aber die Aura, mit der sie an besagter Hochzeit aufkreuzte, war absolut beneidenswert. Das Lächeln strahlend, aber authentisch. Der Small Talk souverän und sympathisch. Und ihr Tanzstil: selbstverständlich super.
Zu späterer Stunde ertappte ich mich doch tatsächlich dabei, wie ich am Rande der Tanzfläche krampfhaft versuchte, ein paar ihrer Moves zu imitieren. Man kann sich vorstellen, wie erst die anwesenden Anzugträger (meiner inbegriffen) auf die Dame reagierten. Ich wäre auch gern so charismatisch. Dann könnte ich meine Meinung sagen, ohne knallrot anzulaufen; Witze so erzählen, dass nicht nur aus Höflichkeit gelacht wird; und mühelos etwas umtauschen, das schon drei Monate in meinem Schrank hing. In meinem Lieblingscafé würde die Kellnerin endlich schnallen, dass ich meinen Latte Macchiato jeden Morgen mit Kakaopulver will. Und statt mich stundenlang für alles zu rechtfertigen, würde ich einfach mal machen. Punkt.
Charismatische Menschen haben Visionen, vertreten Standpunkte, argumentieren leidenschaftlich. Ich wäre schon glücklich, wenn meine Entscheidungsfreudigkeit so weit reichen würde, dass andere wissen, wofür ich stehe: High Heels oder Ballerinas, Berge oder Meer, Merkel oder mal was Neues? Einmal hab ich eine Freundin zum Debattierclub begleitet. Aber die Argumente der anderen erschienen mir so überzeugend, dass ich lieber zum Gegnerpult geschlichen wäre, statt bewusst dagegen anzureden.
Das Problem: Ich fühle mich wohler, wenn andere bequatschen und begeistern, ärgere mich aber irgendwie auch, wenn meine Talente und Thesen, meine Vorzüge und Verdienste schlicht übersehen werden, weil ich mich nicht mit ihnen schmücke.
„Ihr müsst strahlen! Tastet mit eurer Energie den Raum ab, breitet die Gedanken aus, bis die Fenster bersten.“ Ich fühle mich wie ein Glücksbärchi, das durch seine geschwollene Brust einen Zauber versprüht und die Welt mit Regenbogenfarbe bepinselt, während ich das Atelier abschreite. Dabei sind die Wände grau – und meine Kurskollegen bemüht, noch kräftiger zu strahlen. Unter ihnen ist Berater Marc, der sich mit Lockerheit und Loslassen schwertut. Die nette Nadine, die, wenn’s drauf ankommt, lieber in die Reserve, statt in die Vollen geht. Dann Sporttherapeutin Maja, der die Patienten auf der Nase herumtanzen; Marktforscherin Sandra, die sich als Führungskraft unter Männern behaupten muss; und Zivi Tom, der nicht weiß, wo es hingehen soll. Alle wollen an ihrer Ausstrahlung arbeiten, wünschen sich eine bessere Wirkung auf andere und sind deshalb, wie ich, beim Charisma-Coaching im Hamburger Kurswerk (www.kurswerk.net).
Julia Jessen, 37, unterrichtet hier nicht nur Darsteller, sondern auch ganz „normale Menschen“ mit Schauspielmethoden, die Körpersprache und Stimme, Präsenz und Persönlichkeit schulen sollen. „Weil Charisma wirklich etwas ist, was man lernen kann.“
Wir werfen Bälle, rufen „Hey!“ und suchen den Blickkontakt der anderen. Dann klatschen wir einem Spielpartner zu, der den Angriff möglichst gelassen abwehren soll. Wir lernen, das Verhalten des Gegenübers intuitiv wahrzunehmen; wach, aber nicht verkrampft zu sein; unser Bewusstsein zu schärfen und uns ganz auf die Situation einzulassen. Damit wir uns während einer wichtigen Präsentation – oder eines Dates! – vor lauter Anspannung nicht blockieren und unseren Zuhörer fokussieren können, ohne den Faden zu verlieren.
„Aus sich herauskommen und auf andere eingehen können: Die Mischung macht’s, wenn man beeindrucken und etwas bewegen möchte“, sagt Julia Jessen. Charismatisch zu sein bedeutet, der Schauspielerin zufolge, nämlich nicht nur, den Alleinunterhalter zu mimen: Vielmehr komme es darauf an, sich in sein Gegenüber einfühlen zu können und echtes Interesse zu entwickeln – damit man mit der eigenen Message später auch den richtigen Nerv trifft.
Und wenn mein Gesprächspartner sterbenslangweilig oder super unsympathisch ist? Sucht man sich ein Mantra, das ihn und die Situation in ein anderes Licht rückt. Genau das üben wir als Nächstes. Auf meinem Zettel steht, ich soll im Gespräch mit Sandra diese Haltung einnehmen: „Sie hat ein Geheimnis, das es zu lüften gilt.“ Und als Sandra mir vom Familienurlaub im Sauerland erzählt, gelingt es mir tatsächlich, ihr statt einer einschläfernden Story Anekdoten zu entlocken, die uns in eine angenehme Gesprächsatmosphäre versetzen. Weil ich aufmerksam nachgehakt, einen ermutigenden Tonfall angeschlagen und eigene Gedanken beigesteuert habe, statt sie als langweilige Mutti abzustempeln.
Die Technik, mit der es Schauspielern gelingt, sich samt Gestik und Gefühlen in eine Rolle hineinzuversetzen, kann aber nicht nur beim Small Talk nützen. Wer sich vor dem Vorstellungs- oder Gehaltsgespräch zum Glaubenssatz nimmt, dass der Chef gleich sein blaues Wunder erlebt, tritt garantiert auch gelassener auf als jemand, der von vorn - herein das Schlimmste befürchtet. „Der muss doch auch eine nette Seite haben“, „Ich dreh jetzt mal den Spieß um“ oder auch „So nicht, meine Liebe“ – alles Mantras, die helfen können, neugieriger, offener und überraschender zu kommunizieren. Jessen: „Je forschender und spielerischer wir mit Begegnungen umgehen, desto mehr Leichtigkeit kommt in unsere Auftritte – und umso öfter wird man sich an uns erinnern.“
Ich nehme mir vor, die Methode bei der nächsten Taxifahrt oder auf dem Friseurstuhl auszuprobieren – dann herrscht mal keine angespannte Stille, sondern gelöstes Gelächter, weil wir auf peinliche Passagiere und böse Überraschungen im Spiegel zu sprechen kommen.
Aropos Überraschungen: Auf die sollen wir uns künftig viel öfter einlassen, sagt Trainerin Julia. So wie im Improvisationstheater. Denn wer sich bewusst und spontan dafür entscheidet, mal einen anderen Sportkurs auszuprobieren, das Stammcafé zu wechseln oder die Wochenendpläne über den Haufen zu werfen, bleibt beweglich. Und strahlt schon deshalb Souveränität und Gelassenheit aus, weil ihn nichts aus dem Konzept bringt. Statt nervös zu werden, können Improvisationstalente mit einer ruhigen Stimme beeindrucken; statt in Hektik zu verfallen, bewegen sie sich langsam und fließend. Charismatiker auch. „Was macht charismatische Menschen sonst noch aus?“, fragt unser Coach in die Runde. Dass sie optimistisch sind und Intensität verströmen. Dass sie mit sich selbst sie mit sich selbst im Reinen sind, ihre Schwächen tolerieren und die Stärken hervortun. Und dass sie andere dazu bringen können, so zu handeln, wie sie es möchten.
Ein Traum! Kann ich meinen Mann dann am Ende des Kurses ganz galant dazu bringen, dass er gern mit mir Casting-Shows guckt? Meiner Kollegin die Story schmackhaft machen, die ich sonst selbst schreiben müsste? Den Antiquitätenhändler dazu bringen, dass er den Preis fürs Nachtschränkchen senkt? Und den Elternabend in der Kita verkürzen, indem ich unauffällig für Einigung sorge? Nun ja. „Charisma kommt nicht auf Knopfdruck“, sagt Julia Jessen. Aber all diese Situationen taugen herrlich für kleine Statusspiele.
Wir üben: Die nette Nadine und ich sollen Freundinnen spielen, die unterschiedliche Vorstellungen vom gemeinsamen Urlaub haben. Wer sich bei den Planungen durchsetzt, ohne dass die andere mucksch ist, gewinnt den Statuswettbewerb und ordnet die andere ganz geschickt unter. Charismatiker können Interessen nämlich so clever durchsetzen, dass ihnen dafür sogar noch Respekt und Sympathie gezollt werden.
Nadine will ans Meer, ich in die Berge. Sie: „Du, ich hab unseren Traumstrand gefunden! Das wird der Hammer. Ich hab uns gleich die Prospekte mitgebracht.“ Daraufhin ich: „Wow, das ist echt Wahnsinn. Aber weißt du was? Die musst du dir unbedingt für eure Hochzeitsreise nächstes Jahr aufsparen. Romantischer geht’s kaum. Ich beneide euch jetzt schon!“ Plänkel, Geplänkel, wir manipulieren nach Kräften. Lächeln, stimmen zu, switchen um, lächeln noch mehr. Am Ende will ich auch ans Meer – und finde Nadine leider immer noch nett. Dauert wohl doch noch, bis ich vorm Fernseher, in Konferenzen und in der Kita die absolute Macht besitze. Aber Spaß macht es trotzdem, seine Wirkung zu testen, wenn man ein paar neue Werkzeuge kennt, andere Hebel bedienen kann, Schalter anknipst. Und komplett charismabefreit bin ich dann doch nicht: Als ich vor Kursende noch eine Rede vor einer imaginären Geburtstagsgesellschaft halten soll, wende ich alles an, was ich gelernt habe: Lasse meinen Gefühlen freien Lauf und zeige offen meine Freude, gestikuliere gelassen und werfe einzelnen Gästen Kusshände zu, rede lebendig, ernte Lacher, mache Pausen und schaue gerührt in die große Runde.
Wer weiß: Wäre dem Brautpaar neulich auch so ein Auftritt geglückt – emotional, ergreifend und echt –, dann hätte im Polaroidalbum, das abends herumging, vielleicht ihr eigener Schnappschuss geklebt. So aber lächelt mir beim Durchblättern unter „Charisma-Königin“ ein ganz anderes Gesicht entgegen. Sie wissen schon, das von der korpulenten Cousine.