Das erste Mahl in Lyon

Das erste Mahl in Lyon

Die meisten verbinden Lyon mit der Kochlegende Paul Bocuse. Dabei kann man hier mehr als nur Schlemmen: PETRA-Autor Olaf Tarmas ließ sich von zwei jungen Köchinnen die schönsten Plätze zeigen. Nach dem Essen, natürlich.

Lyon© thinkstock
Lyon

Bitte schön – Seidenweberhirn!“ Mit Schwung platziert Isabelle eine Schale auf die rot-weiß karierte Tischdecke. Ich zucke zurück. „Keine Sorge – ist nur Frischkäse mit Kräutern“, zwinkert Isabelle mir zu, bevor sie zum Nachbartisch abdreht. Ich bin zu Gast im voll besetzten „Bouchon des Filles“, dem kleinen Restaurant von Isabelle Comerro, 34, und ihrer Partnerin Laura Vildi, 28.

„Bouchon des Filles“ bedeutet übersetzt „Bouchon der Töchter“ – und „Bouchon“ heißen die traditionellen kleinen Restaurants, die sich in den Gassen der Lyoner Altstadt aneinanderdrängen. Dort sitzt man auf Bänken an langen Tafeln und teilt sich Vorspeisen und Salate aus großen Töpfen. Ellenbogenkontakt ist ebenso erwünscht wie der Plausch mit dem Tischnachbarn. Hemdsärmelig und herzlich geht es zu, der Geräuschpegel ist hoch, die Hausmannskost deftig, und der französische Wein fließt reichlich dazu.

„Sehr gemütlich und gesellig, aber auch ein bisschen altbacken“, fanden Isabelle und Laura das Konzept und beschlossen, es für ihr eigenes Restaurant aufzufrischen. In ihrem „Bouchon des Filles“ herrschen freundliche Farben vor, man sitzt an kleineren Tischen, die aber nach Belieben zusammengestellt werden können. Auch die Speisekarte wurde von Ballast befreit. „Unsere Gerichte basieren zwar auf den traditionellen Rezepten, aber wir servieren nicht diese Unmengen von Fleisch und schweren Saucen“, erklärt Laura.

Dass sie sich als „Töchter“ bezeichnen, ist eine kleine Verbeugung vor den legendären „Mères Lyonnaises“, den „Lyoner Müttern“, die den Ruf Lyons als Frankreichs Gourmet- und Gaumenstadt im Herzen des Landes begründet haben. Ende des 19. Jahrhunderts entließen in einer Wirtschaftskrise viele großbürgerliche Familien ihre Köchinnen, die daraufhin kleine Speiselokale eröffneten. Sie kreierten die berühmte Mischung aus Familien- und Volksküche, die in abgespeckter Form auch bei Isabelle und Laura auf den Tisch kommt: Schweinekopf zum Beispiel und „Quenelles“, köstliche Hechtklößchen in weißer Sauce – und eben den Klassiker „Seidenweber- Hirn“.

Aber wieso eigentlich Seidenweber? „Weil Lyon die Stadt der Seide ist“, erklären mir Laura und Isabelle, als sie später am Abend etwas Ruhe haben und an der Bar noch einen Absacker mit mir trinken. Auf einem Hügel oberhalb der Altstadt entstand ein ganzer Stadtteil der Seidenspinner und Textilarbeiter. „Die hatten nicht viel Geld – und in den Bouchons konnten sie für ein paar Francs satt werden“, erklärt Laura.

Jesus kommt aus Lyon

Am nächsten Morgen wollen Laura und Isabelle mir ihr Lyon zeigen – und führen mich zuerst auf einen Markt. Im Schatten großer Platanen bummeln wir über den „Marché Saint Antoine“ an der Uferpromenade der Saône. „Du musst unbedingt Jesus probieren“, sagt Isabelle, als wir am Fleischerstand vorbeikommen. Nein, ich habe mich nicht verhört: Die Lyoner haben ihre Lieblingswurst nach dem Heiland benannt – und so, wie Isabelle selig gen Himmel blickt, als sie sich ein Scheibchen einverleibt, scheint sie ihr himmlisch zu schmecken. Ich probiere ein Stückchen von einem „Baby-Jesus“ (die kleinere Version), kann aber keinen Unterschied zu einer normalen Salami feststellen. Man muss wohl von hier sein, um diesen Kult zu verstehen…

„Voilà – unsere Stadt!“, ruft Laura mit großer Geste, als wir an der Uferbalustrade ankommen – und wirklich: Von hier aus hat man das Gefühl, ins Herz von Lyon zu blicken. Lyon liegt am Zusammenfluss der Rhône und der Saône. Die Saône strömt erstaunlich türkis und schnell unter großen Brücken hindurch und trennt Alt von Neu. Am gegenüberliegenden Ufer schmiegen sich die rosafarbenen Häuser der Altstadt an einen Hügel, auf dem die Basilika Notre-Dame de Fourvière mit ihren schlanken Türmchen thront. Auf unserer Seite, auf der kleinen Halbinsel, wo sich Saône und Rhône treffen, liegt der modernere Teil von Lyon, der mir vorkommt wie eine Art Pocket-Paris: große Boulevards, elegante Bürgerhäuser, prächtige Plätze mit Brunnen und Cafés – aber hier ist alles, im Gegensatz zur Hauptstadt, überschaubar und zu Fuß erreichbar.

Rathaus in Lyon© thinkstock
Rathaus in Lyon

Wir wandern durch das „Carré d’Or“, das „goldene Viertel“, um der zweiten Leidenschaft von Laura und Isabelle zu folgen – Mode. Mehr als 70 Boutiquen kuscheln sich in den Gassen der Altstadt, viele Lyoner Designerinnen sitzen hier. In diesem Bezirk zeigt sich die andere Seite der scheinbar so bodenständigen Stadt: etwas unterkühlt und sehr elegant. Isabelles Lieblingsgeschäft ist „Ma petite robe noire“, verkauft werden ausschließlich kleine Schwarze. Für jede Tageszeit und jeden Anlass, zu jedem Preis, von Economy-Roben zu 150 Euro bis zum Lagerfeld-Modell für das Zehnfache. Einiges von dem, was in den Schaufenstern des Viertels zu sehen ist, können wir ein Stückchen weiter auf dem Rathausplatz bewundern: Dort wirbeln an diesem Nachmittag Salsa-Paare über das Pflaster, mit hohen Hacken und im kleinen Schwarzen, aber auch mit Flipflops und Shorts.

Auch wenn ich selbst keinen Salsaschritt beherrsche – die gute Laune der Freiluft-Tanzstunde überträgt sich sofort. Auch auf der anderen Seite des Rathauses erklingt Musik: Im „Péristyle“, dem Bogengang an der Oper, finden im Sommer Jazzkonzerte statt. Ringsum haben die Cafés ihre Tisch und Stühle gruppiert. „Ein lauer Abend, die Musik – für Verliebte gibt’s kein schöneres Plätzchen als hier“, schwärmt Isabelle. Höchstens noch am anderen Rhône-Ufer der Stadthalbinsel, findet Laura. Dort haben Hausboote mit Cafés und Bars an den Quais festgemacht. Und der nächtliche Blick auf die erleuchtete Stadtsilhouette und den glitzernden Strom betört jeden, versichern mir beide.

Abends wird’s schwer romantisch

Aber noch ist heller Tag – und statt Loungen am Flussufer ist Treppensteigen angesagt. Es geht hinauf ins Seidenweber-Viertel „Croix Rousse“. Tausende von Webstühlen standen früher in den Werkstatthäusern, heute begehrter Wohnraum für Künstler und Kreative. Wegen der Lage über den Dächern von Lyon betrachtet sich das Szeneviertel mit seinen Galerien, Cafés und kleinen Bühnen gerne als unabhängiges Dorf. Gewebt wird hier heute nur noch im Museum – aber es gibt noch etliche Seiden-Boutiquen.

Nachts ist die Stadt am Fluss

Während die beiden Köchinnen zurück ins Bouchon müssen, klettere ich auf der anderen Seite des Hügels herunter Richtung Altstadt. Und tauche ein in ein Labyrinth aus Treppen, Gassen und Passagen – die sogenannten „Traboules“. Wie ein geheimes Wegenetz durchziehen diese schmalen Durchgänge die Häuserblöcke der Altstadt. Früher dienten sie als Abkürzung für die Lastenträger, heute spielt sich hier ein Teil des Nachbarschaftslebens ab. Es ist eine heimelige kleine Welt, kaum ein paar Schritte von den trubeligen Altstadtgassen entfernt: Katzen sonnen sich auf Simsen, Nachbarn plauschen von Fenster zu Fenster, und in einem Durchgangshof stolpere ich fast in ein Planschbecken, aus dem mich strahlend drei kleine Kinder anblicken.

Als mich die „Traboules“ am anderen Ende der Altstadt wieder auf die Straßen entlassen, dämmert es schon. Höchste Zeit, einen Blick auf das allabendliche Schauspiel zu werfen, das am besten vom Rhône-Ufer aus zu beobachten ist: Brücken und Kirchen werden prachtvoll beleuchtet, die Stadt badet in roten, blauen und gelben Lichtarrangements, die sich in den träge dahinfließenden Wassern der Rhône spiegeln. Laura hatte recht: Romantischer als an den Rhône-Quais mit ihren lauschigen Promenaden, Café- und Club-Hausbooten ist es nirgends sonst in Lyon. Laura und Isabelle haben einen wirklich guten Geschmack, denke ich. Nicht nur beim Essen.

Essen & Trinken

  • Le Bouchon des Filles Das „Bouchon“ von Isabelle Comerro und Laura Vildi liegt etwas außerhalb der Altstadt. Menü 25 €, Rue Sergent Blandan 2o.
  • La Meunière Beladene Tische, überschwappende Gläser und ein überschwänglicher Patron: La Meunière ist ein klassisches Altstadt-Bouchon. Rue Neuve 11, http://la.meuniere.free.fr
  • La Mère Brazier Benannt nach der ehemaligen Inhaberin, einer der berühmtesten „Mères Lyonnaises“, werden dort heute noch Gerichte nach ihren alten Rezepten serviert, allen voran Trüffelhuhn. Das feine Restaurant hat mehrere Stockwerke – die kleineren Zimmer kann man für ein Kerzenschein-Dinner zu zweit buchen. Menü ab 58 €, Rue Royale 12, www.lamerebrazier.fr

Ausgehen

  • Le Broc’ Bar Sympathisch-entspannte Bar nahe des Saône-Ufers für jede Tages- und Nachtzeit, von Apéro bis Absacker. Rue Lanterne 20.
  • Sirius Club, Café, Bar, Schiff: Ganz schön cool und rostig, der alte Kahn an den Rhône-Quais. Geöffnet vom Nachmittag bis in die späte Nacht, oft mit Livegigs von lokalen Bands. Quai Victor Augagneur 4, www.lesirius.com
  • Q-Boat Noch so ein Rhône-Boot: Tagsüber Café, nachts leuchtet das riesige gelbe „Q“ über die Quais und lockt tanzwütiges Volk zu Techno- und House-Musik. Quai Victor Augagneur 17.

Schlafen

  • Bellecour sur Cour Charmantes B&B in Lyoner Stadthaus bei Madame de Sauzea (spricht Englisch), Einrichtung zwischen mutig und schrullig. DZ ab 95 €, Rue du Colonel Chambonnet 3, Tel. : +33 (0)6 61 59 45 46, desauzea@free.fr
  • College Hotel Wie im Internat, nur entspannter: Das nostalgische Design-Hotel am Rande der Altstadt ist mit alten Schulmöbeln eingerichtet. DZ ab 145 €, Place Saint-Paul 5, www.college-hotel.com
  • Cour des Loges Die Altstadt als Hotel: Die luxuriösen Räume und Spa-Einrichtungen gruppieren sich um einen mittelalterlichen „Traboule“-Hof. Zimmer ab 240 €, Rue du Boeuf 2, 4, 6, 8, www.courdesloges.com

Shoppen

  • Nathalie Chaize Die bekannteste Modeschöpferin Lyons. Minimalistischer Stil mit weltweiten Einflüssen. Rue Gasparin 6, www.nathaliechaize.com
  • Ma petite robe noire „Mein kleines Schwarzes“ – über 100 Modelle. Rue Gasparin 8, www.ma-petite-robe-noire.fr
  • Passage Thiaffait In der Passage auf dem Treppenweg zum Croix Rousse hat sich der Lyoner Designer-Nachwuchs angesiedelt – von Prêt-à-porter-Mode über Accessoires bis Deko findet sich dort alles, oft etwas schriller als „unten“ in der Stadt. Die Passage ist Teil eines größeren Netzwerks junger Mode-Kreativer der Region. www.villagedescreateurs.com

Seide & Stadtführungen

  • Sophie Guyot In ihrer Atelier-Boutique kreiert die junge Designerin Seiden-Unikate, vor allem Schals und Accessoires, aber auch Haute- Couture-Kleider. Preise: für jeden Geldbeutel, zwischen 40 und 1500 €. Rue Saint Polycarpe 8, www.sophieguyot.com
  • L'Atelier de Soierie Im Atelier auf dem Croix Rousse malen Anne Pollet und andere Künstler auf langen Seidenbahnen; angeschlossen ist eine Boutique mit eher klassisch-konservativen Seidenkreationen vom Schal bis zum Schlips. Rue Romarin 33, www.atelierdesoierie.com
  • Soierie Vivante Bei Vorführungen an alten Webstühlen erfährt man, wie die Arbeit der Seidenweber einst aussah. Rue Richan 21, www.soierie-vivante.asso.fr
  • Lyon City Greeter Die netteste Art, die Stadt kennenzulernen: Einheimische Enthusiasten führen ihre Gäste für ein paar Stunden durch ihr ganz persönliches Lieblings-Lyon. Vermittlung unter www.lyoncitygreeter.com
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