Was wäre wenn…ich meine erste Liebe wieder treffe?

Was wäre wenn…ich meine erste Liebe wieder treffe?

Schüchterne Blicke, feuchte Hände: PETRA-Mitarbeiterin Claudia Thesenfitz wollte ihren Schwarm von einst wieder treffen – und stellte fest, dass das Gedächtnis ein erstaunliches Eigenleben führt.

Erste Liebe© Yuri Arcurs - fotolia.com
Erste Liebe

Der Tag, an dem ich aufhörte, ein Junge sein zu wollen, war der Tag, an dem Frank Böttcher an meiner Tür klingelte. Ich war sechs und Frank war sieben. Er kam fast jeden Nachmittag zu uns, um meinen Cousin zum Fußballspielen abzuholen. Riesige braune Augen und schwarze Haare hatte er. An diesem einen Nachmittag kam er meinetwegen. Nur meinetwegen. Wir verbrachten unendlich romantische Stunden in der Hängematte unter dem Pflaumenbaum im Garten meiner Tante. Es war der perfekte Tag: der Sommer, die Sonne, der Blütenduft, das träge Schaukeln der Hängematte, das Vogelgezwitscher, das S-Bahn- Rauschen aus der Ferne – und unser schüchternes Lächeln, unsere unsicheren, unschuldigen Blicke. Ein warmes Gefühl stieg mir wie Fanta-Perlen in den Kopf, machte mich ganz beschwingt und leicht. Bis dahin kannte ich diese Regung nicht. Aber ich erkannte sie sofort: Es war mein erstes Gefühl von Liebe – ein unzerstörbares, über jeden Zweifel erhabenes Gefühl.

Doch nach diesem Nachmittag ging es nicht weiter. Wir waren beide in der 1. Klasse der Grundschule und konnten die Liebe damals weder begreifen noch umsetzen. Zwar begleitete Frank mich bis in die 9. Klasse des Gymnasiums – aber nie wieder kam es zu einem gemeinsamen Nachmittag. Auf Klassenfotos stand er schüchtern und blass am Rand, meist in einem schrecklichen Hemd mit viel zu großem Kragen. Er war ein stiller Junge – und ich viel zu wild für ihn. Beim Flaschendrehen oder auf Klassenreisen habe ich mehrmals versucht, ihn zu kriegen. Doch er ließ sich nicht fangen. Irgendwann war er mit einer Cordula liiert, einem bieder wirkenden Mädchen aus der Parallelklasse. Wegen eines Umzugs wechselte ich die Schule und die Stadt, verlor ihn aus den Augen. Und aus dem Herzen. Die Welt ist voller Franks, glaubte ich damals. Erst Jahre später kam ich darauf, dass das ein Irrtum gewesen sein könnte. Frank, meine erste, unschuldige Liebe, gab es nur einmal.

Als eine meiner besten Freundinnen per Zufall ihren Jugendfreund wieder traf und ihn drei Monate später heiratete, erinnerte ich mich Knall auf Fall wieder an Frank Böttcher: „Was ist aus ihm geworden?“, fragte ich mich. Und: „Hätte er vielleicht doch das Zeug zur Liebe meines Lebens gehabt?“ Ich beschloss, ihn wieder zu sehen. Gesagt – aber noch lange nicht getan. Denn Frank war zunächst nicht zu finden. Ich googelte ihn in allen Variationen seines Nachnamens, suchte bei der Auskunft, schrieb über StayFriends unsere ehemaligen Klassenkameraden an und forschte nach seinen Eltern. Nix! Er schien verschollen. Auf Klassentreffen war er nie erschienen, und seine Eltern waren unbekannt verzogen. Waghalsige Visionen einer Doppelexistenz im Kronzeugen-Schutzprogramm oder als Terrorist mit ständig wechselnden Identitäten spulten sich in meinem Kopf ab. Stille Wasser sind ja bekanntlich tief. An die traurige Möglichkeit, dass er gestorben sein könnte, mochte ich nicht glauben. Frank lebte – ich musste ihn nur finden. Und tatsächlich: Nach vier Wochen intensiven Suchens über tausend Umwege tat ich schließlich Franks Schwester Gudrun auf. Und damit bekam ich sie – seine Nummer! Er hatte den Namen seiner Frau angenommen, wie ich jetzt erfuhr. Deshalb, nur deshalb war er nicht aufzufinden gewesen. „Schneider“ hieß er jetzt, wie seine Gattin, Cordula Schneider. Cordula!!! Genau dieselbe wahrscheinlich, mit der er schon als Teenie zusammen war...

Einen Tag und zwei Mutmach-Gläser Rotwein später rief ich an. Cordula nahm ab. Ich sagte meinen Namen und fragte nach Frank. Sie legte den Hörer beiseite, um ihn zu holen. „Thesenfitz – war die nicht auf unserer Schule?“, hörte ich sie fragen. In ihrer Stimme schwang Misstrauen mit. Frank brummte irgendetwas zurück, ich hörte Schritte – und dann war er tatsächlich dran. „Hallo?“ Das Gespräch ließ sich erstaunlich unkompliziert an, er klang sehr nett, frisch und gut gelaunt. Sagte, er freue sich, dass ich anrief – und dass er Lust hätte, mich wieder zu sehen. Währenddessen versuchte ich, mich zu erinnern, ob ich seine Stimme erkannte, die Oktave, den Nachhall, irgendetwas darin… Doch ich erkannte nichts. Viel zu selten hatte ich mit ihm gesprochen. Wir verabredeten uns für eine Woche später. Ich solle auf einen Kaffee vorbeikommen, schlug er vor. Ich fühlte mich ein bisschen wie eine Stalkerin. Bis dahin hatte ich mich noch nie selbst bei jemandem eingeladen.

An einem sonnigen Samstag machte ich mich auf den Weg. Frank und Cordula wohnten in einem kleinen Dorf in Norddeutschland, zwei Stunden von mir entfernt. Auf der Fahrt schwelgte ich in den romantischen Klängen von Donovan Frankenreiter und fragte mich, wie er jetzt wohl aussähe. Wie er lebte, wie verkrampft das Treffen geraten würde, wenn Cordula die ganze Zeit danebensäße – und überhaupt: was mehrere Jahrzehnte Cordulaisierung mit ihm angerichtet hatten. Ich stellte mir vor, wie er wohl mit 17 gewesen war. Mit 25. Mit 30. Wie sich sein Körper verändert hatte. Und sein Gesicht. 35 Jahre lagen zwischen unserem Traumsommer und heute. Und ich fragte mich auch, was ich mir eigentlich von dem Treffen versprach. Etwa, dass er mir seine langjährige, heimliche Liebegesteht? Dass er Cordula nur geheiratet hatte, weil er mich nicht kriegen konnte? Hoffte ich, dass sich auch ihm unser Hängematten-Nachmitta für immer ins Herz gebrannt hatte? Und dass wir da für nun endlich die Worte finden würden, die uns als Kindern gefehlt hatten? Ich fuhr durch einen Wald, an einem See vorbei und parkte vor einem roten Klinker-häuschen. Der Garten sah traumhaft aus, Kies knirschte unter meinen Schuhen, als ich mit klopfendem Herzen zur Haustür ging.

Ich klingelte – und dann stand er leibhaftig vor mir: Frank, meine Kinderliebe. Groß war er, und hübsch. Ein schrecklicher Moment! Krampfhaft rang ich um Unverkrampftheit, faselte etwas von einer „schönen Fahrt“, schüttelte seine warme Hand und suchte in seinen immer noch riesigen braunen Augen nach einem Zeichen des Wiedererkennens. Schlank war er, wie früher, seine Haare noch voll, nur leicht angegraut, und noch immer lächelte er dieses schüchterne Lächeln. Er trug ein weißes T-Shirt und beige Arbeitshosen, an deren Knien Erde klebte. „Schön, dich zu sehen“, sagte er, und es klang ehrlich und herzlich. Drinnen roch es nach Kaffee und es war gemütlich eingerichtet. Ikea meets Erbstücke – and I meet Cordula: Freundlich, beinahe überschwänglich nahm sie mich in den Arm und strahlte mich an. Sie kam mir unglaublich locker, sympathisch und gar nicht bieder vor – das verwirrte mich.

Bei Kaffee und selbst gebackenem Apfelkuchen erzählten mir Frank und Cordula ihre Lebensgeschichte. Die beiden hatten sich tatsächlich seit der Schulzeit nie getrennt, hatten zusammen studiert – und waren nun hier gelandet, auf diesem traumhaften Grundstück. Frank arbeitete seit ein paar Jahren als Land-Tierarzt. So einer, der mit kleinen Kälbern spricht und kranke Katzenbabys impft: wie romantisch! Mit jeder weiteren Minute sank ich tiefer in einen Inga-Lindström-Fernseh-Film: ich in Schweden, kurz vor dem Happy End mit meinem soeben entdeckten Traummann. Die Cordula-Problematik verdrängte ich irgendwie. Da schossen zwei Knopfaugen-Kinder mit Gebrüll um die Ecke: ein Sohn und eine Tochter. Cordula ging mit ihnen raus zum Kaninchen-Füttern.

Endlich stellte ich Frank die Frage aller Fragen: „Weißt du, dass du meine erste große Liebe warst?“ „Echt?“, fragte er zurück und ließ überrascht seine Kaffeetasse sinken. „Du kamst doch immer wegen meines Cousins.“ „Ja“, sagte Frank. „Und einmal kamst du wegen mir. Wir saßen im Garten meiner Tante unter dem Pflaumenbaum, in der Hängematte…“ „Oh. Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr“,sagte Frank und lachte verlegen. „An das Haus deiner Tante erinnere ich mich schon. Auch an deinen Cousin. Aber an diesen Nachmittag?“ Zack! Das saß. Ich nahm einen großen Schluck Kaffee, um diese Antwort zu verdauen. „Fandest du mich denn gut? So als Kind?“, fragte ich tapfer weiter – und baute ihm damit eine letzte Brücke. „Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dich nicht gemocht zu haben. Du hattest doch so ganz lange, glänzende braune Haare, oder?“ Und er lächelte sein magisches Frank-Böttcher-Lächeln: so strahlend, dass ich ihm sofort wieder hätte verfallen können. Die Sache ist nur die: Meine Haare waren strubbelig, halblang – und blond.

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