
Girl learns to dance in a year
Als sie gegen Ende der Talkshow von US-Moderatorin und Schauspielerin Queen Latifah vor 1,5 Millionen Zuschauern tanzen soll, steht Karen X. Cheng vom Sofa auf und legt los. Es ist der erste Fernsehauftritt der 26-Jährigen vor einem so großen Publikum. Eigentlich arbeitet sie in der IT-Branche. Sie ist keine Tänzerin. Aber sie
bewegt sich wie eine. Dafür hat die Amerikanerin ein Jahr lang trainiert. Mindestens fünf Minuten täglich, an 365 Tagen in Folge. Und sie hat ihre Fortschritte gefilmt. „Girl learns to dance in a year“ – Mädchen lernt in einem Jahr tanzen, heißt das Video, das ihre Entwicklung dokumentiert. Bis heute haben es über 4,5 Millionen Menschen auf YouTube angeklickt. Weil ihr Clip so viele Fans hat, war KarenCheng plötzlich als Talkshow-Gast und Rednerin gefragt. Die Anfänge waren alles andere als fernsehreif. In dem Clip sieht man Cheng, wie sie sich zaghaft im Tanzstudio als Roboter versucht. Nach einem Monat werden ihre Bewegungen energischer. Am Ende tanzt sie in einem neongelben Trägerhemd und schwarzen Leggings in einer U-Bahn-Station – und wirkt selbstbewusst wie Beyoncé. Auf YouTube meldeten sich unter ihrem Video unzählige Kommentatoren zu Wort. Etliche bedankten sich per E-Mail bei der Hobbytänzerin für die Inspiration. Cheng sagt: „Viele der Absender hegten ebenfalls ein Herzensprojekt, aber ihnen fehlte der Mut, es anzugehen.“ Und nicht nur der, wie wir nur zu gut wissen: Man hat Angst vor dem möglichen Scheitern. Hält sich für zu alt. Oder der innere Schweinehund übertönt jedes Argument und jede Lust, sich aufzuraffen.
Die Fähigkeit, Neues zu lernen, ist uns angeboren
Dabei ist uns die Fähigkeit, Neues zu lernen, angeboren. Das Gehirn eines Menschen besteht im Durchschnitt aus 100 Milliarden Neuronen. Am besten funktionieren diese, wenn sie gefordert werden. Studien haben gezeigt, dass Menschen, die zum Beispiel eine Fremdsprache lernen, nicht nur besser Matheaufgaben lösen und lesen können. Sie bleiben auch länger von Alzheimer und Demenz verschont. Unser Verstand will eben genauso trainiert werden wie unser Körper. In den ersten Jahren unseres Lebens geht das scheinbar wie von selbst: Wir lernen greifen, aufstehen, sprechen. Später klettern wir auf Bäume, schlagen Purzelbäume im Garten. Schnappen im Kindergarten Worte auf, die unsere Eltern uns zu Hause wieder verbieten. „Jeder Mensch kommt als Forscher zur Welt“, sagt Sonia Lippke, Professorin für Gesundheitspsychologie. Sie lehrt am Zentrum für Lebenslanges Lernen der Jacobs University in Bremen. Lippke ist überzeugt, dass wir diesen Forscherdrang immer wieder anstacheln sollten: „Als Kinder probieren wir Neues aus, ohne dass uns jemand dazu auffordern muss. Wenn wir älter werden, verlieren viele von uns die Freude daran.“ Dabei könnten die Lernbedingungen im Erwachsenenalter nicht besser sein. Liegt die Schulzeit hinter uns, gibt es keinen Grund mehr, mit eingezogenem Genick vor den Aufgaben zu sitzen. Niemand erwar - tet von uns, dass wir morgens um 8 Uhr Exponentialgleichungen lösen. Wenn wir als Erwachsene lernen, dann weil wir es als Bereicherung empfinden.
Man muss nur eine Disziplin finden. Karen Cheng zählt in ihrem Blog all die Dinge auf, die sie vor dem Tanzen ausprobierte: Klavier, Gitarre, Singen, Cello, Jonglieren, Taekwondo, Origami. Auch mit Telekinese hätte sie es spaßeshalber versucht. Aber so richtig ins Herz zu treffen, das schaffte erst ein Video des Tänzers Marquese Scott im Internet. „Seine Bewegungen grenzen an Superkräfte. Und ich wusste: Das will ich auch.“

Cheng ist der Meinung, dass es nie einfacher war, seine Passion zu finden: „Inspiration wartet an jeder Ecke. Dank des Internets können wir heute den Welt besten beim Ausüben ihrer Disziplinen zusehen.“ Zum Beispiel dem Harvard- Professor Alfonso Caramazza, wenn er seinen Studenten die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft darlegt. Oder der Yoga-Ikone Kino MacGregor, die demonstriert, wie man den Körper in der Luft hält, wenn man nur auf den Unterarmen steht. „Wenn wir anderen dabei zusehen, wie sie eine Aufgabe meistern, begeistert uns das. Und es weckt den Wunsch, es ihnen nachzumachen“, sagt Sonia Lippke. Auch die Weiterbildungsforscherin Annika Goeze ist überzeugt, dass das Internet den Zugang zu Bildung einfacher gemacht hat: „Lernwillige finden im Netz zu nahezu jedem Interessensgebiet passende Inhalte“, sagt sie. So kann man sich in YouTube-Tutorials erklären lassen, wie man einen Regen bogenkuchen backt oder ein Pferd richtig striegelt. Die mehrstündigen Videolektionen der Bildungsplattform iTunes U geben Einblick in die Geschichte des mexikanischen Kinos oder helfen, Themen wie Kapitalismus oder Tod mittels philosophischer Betrachtungen besser zu begreifen. Bibliotheken verleihen E-Books zu Sachthemen (onleihe.net). Apps wie Duolingo machen das Smartphone zum Sprachtrainer für die Handtasche. Wer Fremdsprachen lieber im Austausch mit anderen lernt, findet Muttersprachler zum gemeinsamen Skypen über Plattformen wie conversationexchange.com. Und das sind nur einige wenige der unzähligen kostenlosen Angebote. Annika Goeze forscht am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V.. Aus ihrer Sicht eignet sich das Internet vor allem für diejenigen als Bildungsstätte, die selbstorganisiert lernen wollen und können (s. unser Test „Welcher Lerntyp sind Sie“ auf petra.de). Aus Freude an einem neuen Hobby, aber auch um beruflich voranzukommen. „Abhängig vom Bundesland stehen Angestellten unterschiedlich viele bezahlte Tage für berufliche Weiterbildung zu, in NRW zum Beispiel fünf Tage; informieren lohnt sich also“, sagt sie. Es kann jedoch dauern, bis der Chef diese genehmigt. Oder die Firma organisiert Fortbildungen, die nicht zu einem passen. Doch selbst, wenn der Arbeitgeber beste Voraussetzungen schafft: Die Investition in einen Photoshop-Kurs oder Sprachferien rechnet sich spä - testens mit der nächsten Bewerbung. Manchmal öffnen sich durch das eigene Engagement neue Türen.
DAS ALTER IST KEINE AUSREDE
Bei jedem steht ein Buch über französische Grammatik im Regal, das nur zweimal aufgeschlagen wurde. Staubt eine Gitarre ein. Wartet ein Surfboard darauf, im Frühling auf dem Flohmarkt verkauft zu werden. Anderen dabei zuzusehen, wie sie sich weiterentwickeln, bewegt uns. Wir fiebern bei Casting-Shows mit, wenn die Teilnehmer mer erst Töne verfehlen, nur, um uns wenige Folgen später mit ihrem in Perfektion geschmetterten „Nessun dorma!“ zu Tränen zu rühren. Oder schauen uns zum dritten Mal in Folge Chengs Tanzversuche auf You- Tube an. Doch selbst die gibt zu, dass es ihr oft schwerfiel, sich zu motivieren: „Jeder von uns hat doch mindestens eine Ausrede parat, warum er gerade nichts Neues lernen kann: zu viel Arbeit, die Kinder, das Alter.“ Besonders letzteres hielten selbst Wissenschaftler lange für ein gewichtiges Argument. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr – mittlerweile hat man sich von dieser Annahme aber verabschiedet“, sagt die Weiterbildungsforscherin Annika Goeze. „Wir wissen heute, dass Menschen bis ins hohe Alter dazu in der Lage sind, sich neue Fähigkeiten anzueignen.“ Aus ihrer Sicht kann eine Frau mit 30 Jahren durchaus noch lernen, ihre liebsten Songs von Arcade Fire auf der Geige nachzuspielen. Oder eine 40-Jährige zu twerken wie Miley Cyrus. „Es gibt nichts, was dagegen spricht“, sagt Goeze. Außer vielleicht der Protest der Verwandten. „Die körperlichen Voraussetzungen sind nicht mehr die gleichen wie bei einem Jugendlichen“, räumt die Wissenschaftlerin ein. „Was mit der Zeit nachlässt, sind die sensorischen Leistungen des Sehens und Hörens, die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und die Kapazität und Genauigkeit des Arbeitsgedächtnisses.“ Das sei aber kein Problem, so Goeze: „Der Mensch entwickelt mit den Jahren Strategien, um diese Mängel auszugleichen. Entscheidend ist vor allem die Motivation.“ Diese Meinung vertritt auch Sonia Lippke: „Erwachsene lernen zum Beispiel neue Bewegungen etwas langsamer als Jugendliche. Auch die Kondition beginnt mit Mitte 20 nachzulassen.“ Trotzdem lernen 75-Jährige das Jonglieren im Durchschnitt genauso gut wie 30-Jährige. „Und mit zunehmendem Alter fällt es uns leichter, Lösungen für Probleme zu finden und den inneren Schweinehund auszutricksen“, so Lippke. Trainieren wir diese Fähigkeiten, indem wir uns neuen Herausforderungen stellen, leben wir laut Studien gesünder und zufriedener.

Karen Chengs Strategie: „Ich nahm mir vor, jeden Tag mindestens fünf Minuten lang zu üben. Selbst, wenn ich spät aus dem Büro kam oder sehr müde war – fünf Minuten an einer Armbewegung zu feilen, war immer noch drin.“ Jeden Tag, an dem sie geübt hatte, markierte sie mit einem X im Kalender. Bekannt wurde diese Methode durch den Komiker Jerry Seinfeld. Er motiviert sich damit, jeden Tag etwas zu schreiben. Ob 20 Seiten eines Drehbuchs oder nur einen Witz, ist für ihn nicht ausschlaggebend. Hauptsache, die Kette zieht sich ohne Unterbrechung durch den Kalender. „Denn hat man erst mal 10, 100, 300 Kreuze in einer Reihe gemacht, will man die Serie auf keinen Fall unterbrechen“, sagt Cheng. Wem es gelingt, die Vokabelübungen oder Bauchtanzschwünge so zur täglichen Routine zu machen, der wird durch einen positiven Nebeneffekt belohnt, verspricht Sonia Lippke: „Sich neue Fähigkeiten anzueignen, wird einem in Zukunft generell leichter fallen.“ Und das unabhängig davon, ob man sich als nächstes den Dreisatz vornimmt oder das Baumkuchenbacken.
Für Karen Cheng wurde das neue Hobby sogar zum Karriereschritt. Weil sie so viele Zuschriften bekam, kreierte sie mit einem Freund eine Plattform für Lernwillige: Auf giveit100.com können Nutzer ihre Trainingserfolge mit täglichen Videos dokumentieren. Bisher ist es Cheng nur nicht gelungen, ein Geschäftsmodell daraus zu entwickeln. Dass sie sich davon entmutigen lässt, ist unwahrscheinlich. Immerhin hat sie sich schon einmal bewiesen, dass sie ihr Ziel erreichen kann, wenn sie nur will. Und gelernt ist gelernt.
LERNANGEBOTE FÜR ALLE
iVersity
Auf der deutschen Plattform werden kostenlos sogenannte MOOCS, kurz für Massive Open Online Courses, angeboten. iversity.org
Khan Academy
Über 4000 kostenlose, englischsprachige Lernvideos zu Naturwissenschaften, Geschichte und Wirtschaft. Leider gibt es bisher nur eine Auswahl davon auch auf Deutsch. de khanacademy.org
iTunes U
Internationale Hochschulen und Bildungseinrichtungen stellen ihre Vorlesungen und eigens angefertigte Lehrvideos zur Verfügung (für Mac, iPhone und iPad).
Duolingo
Kostenlose App, die hilft, Fremdsprachen zu lernen. Hören, Sprechen und Schreiben werden trainiert – (für iPhone, iPad und Android).
Instructables
Wie macht man eine Karnevalsmaske aus Latex? Eine Lampe aus Knöpfen? Diese englischsprachige Website bietet eine riesige Auswahl an kreativen Anleitungen. instructables.com
VHS
In den deutschen Volkshochschulen findet jeder Lernwillige einen passenden Kurs. Wer denkt, die VHS sei verschnarcht, war vermutlich noch nie dort. vhs.de
BILDUNGSURLAUB: WAS IHNEN NIE EINER SAGT
In zwölf Bundesländern (Sonderregelungen in Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen) haben Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf mehrere Tage bezahlten Bildungsurlaub im Jahr. Ausschlaggebend ist nicht der Wohnort, sondern der Standort des Arbeitgebers. In vier Steps zum Bildungsurlaub:
1. Reichen Sie Bildungsurlaub so frühzeitig wie möglich ein. Der Antrag muss der Firma schriftlich sechs Wochen vor dem Termin vorliegen.
2. Der Antrag muss belegen, dass der geplante Urlaub ein Bildungsurlaub ist. Informationen über das Programm des gewählten Kurses gehören dazu und ein Nachweis darüber, dass der Anbieter als Bildungsträger anerkannt ist (Links zu den Listen finden Sie auf bildungsurlaub.de).
3. Nach drei Wochen sollte eine Reaktion des Arbeitgebers vorliegen. Achtung: In manchen Bundesländern gilt keine Reaktion als Zusage.
4. Im Anschluss an den Bildungsurlaub sollte man der Firma einen Nachweis vorlegen, dass man an dem Seminar teilgenommen hat.