
Ein perfekter Augenblick. Also fast. Die Sonne schmilzt zwar ganz pittoresk ins Meer hinab, aber das Wasser könnte schon ein bisschen wärmer sein. Außerdem zwickt der Bikini, weil im Urlaub alles ein bisschen köstlicher schmeckte. Geld haben wir auch zu viel ausgegeben. Und Dänemark ist ja ganz nett, aber nächstes Jahr doch lieber Süden … In zwei Tagen geht’s schon wieder nach Hause zurück. Hoffentlich ohne Stau und ohne Krach. Das soll der Jahresurlaub gewesen sein? Na vielen Dank. Ja, mit der Wahrnehmung des Moments ist es so eine Sache. Dass Zeit eine flüchtige Angelegenheit ist, hat man ja inzwischen begriffen. Aber wie routiniert man es schafft, jeden kostbaren Moment zu atomisieren, indem man über das Für und Wider, das Gestern und die Sorgen von morgen grübelt, ist erstaunlich. Im Urlaub tun wir uns mit dem Genuss des Augenblicks schon schwer, im Alltag nimmt dieses Unvermögen skurrile Züge an: So stopft man unbewusst eine Ladung Kekse in sich hinein, starrt fassungslos auf die leere Packung und wundert sich, dass einem schlecht ist. Wo war man bloß in den letzten Minuten mit seinen Gedanken? Und wo in den letzten Monaten, war nicht eben noch Weihnachten? Ja, fast. Kein Wunder, dass man das Gefühl hat, dass das eigene Leben wie im Schnelldurchlauf vorüberzieht und man langsam Atemnot bekommt.
Ein Problem mit drei Facetten: Erstens können wir das gegenwärtige Glück kaum genießen, zweitens zerrinnt uns die Zeit zwischen den Fingern, und drittens nimmt der Termindruck stetig zu. Zu hastig hecheln wir durch die 53 Wochen im Jahr und wünschen uns zwischen Yogakurs und Stressmanagement ein bisschen Frieden. Laut Studien schätzen sich nur 25 Prozent der Bundesbürger als genussfähig ein; 40 Prozent sagen, sie würden es gern besser können – und 80 Prozent würden unterschreiben, dass Genuss wichtig für die Gesundheit sei. Aber wie lernt man, den Moment zu schätzen? Schon Faust plagte sich mit der inneren Unzufriedenheit herum und wünschte sich, zum Augenblick zu sagen: „Verweile doch! Du bist so schön!“ Allerdings ging die Nummer nur bedingt gut aus. Erleichterung verspricht nicht der Pakt mit dem Teufel, sondern das Wort „Achtsamkeit“. Grob gesagt wird damit die Fähigkeit bezeichnet, jeden Augenblick unseres täglichen Lebens bewusst wahrzunehmen. Dazu soll sie uns auf Gewohnheiten aufmerksam machen, mit denen wir uns selbst das Leben schwer machen, für Klarheit und Ausgeglichenheit sorgen und die Konzentration schärfen. Leider klingt „Achtsamkeit“ befremdlich nach Räucherkerzen und Omm-Singen – und weil es seit einigen Jahren wieder schwer in Mode gekommen ist, wird Achtsamkeit gern für jeden Zweck verbraten. Coaches bringen überspannten Managern bei, wie sie mit der Methode abschalten, Frauen versuchen sich mit Achtsamkeits-Diäten den Speck von den Hüften zu meditieren, Ratgeberautoren lassen sich darüber aus, wie man achtsam seine Kinder erzieht oder sich besonders achtsam mit seinem Partner in die Haare bekommt. Wer immer noch nicht genug hat, kann achtsam kochen und über das „Lächeln der Radieschen“ sinnieren. Kein Witz, so heißt der Titel eines vegetarischen Kochbuchs. Zen macht eben auch vor der Küche keinen Halt. Schade eigentlich, denn Achtsamkeit ist eine jahrtausendealte buddhistische Tradition mit einer ehrenwerten Absicht – Buddha wollte das Leid der Menschen lindern. Mit Religion hatte Achtsamkeit übrigens herzlich wenig zu tun, denn Buddha selbst befahl seinen Schülern, an nichts zu glauben, nur weil es in Büchern geschrieben steht.
Das Leben bewusst erleben
Die Psychotherapie entdeckte Achtsamkeit in den 60er- und 70er-Jahren neu und verwendet es inzwischen vor allem zur Stressbewältigung, bei Depression und Ängsten – was aber nicht bedeutet, dass es einem zwingend mies gehen muss, um sich damit zu beschäftigen. Dr. Michael E. Harrer, Psychiater, Psychotherapeut und Autor („Das Achtsamkeitsbuch“, siehe auch nächste Seite) erklärt dazu: „Bei Achtsamkeit geht es nicht nur um die Bewältigung von Leid, sondern auch darum, das Leben bewusster und intensiver zu erleben.“
Womit wir wieder beim perfekten Augenblick wären – und dem inneren Frieden. Stille Zufriedenheit ist eine sehr abstrakte Idee. Vor allem weil zusätzlich zu dem „Bürgerkrieg im Kopf“, wie der Sänger und Politaktivist Bob Geldof unsere Hätte-Könnte-Müsste-Grübelsucht einmal nannte, entweder ein bis zwei Kinder am Ärmel ziehen, das Handy klingelt, die Milch überkocht und der Straßenlärm im Hirn dröhnt. Harrer: „Als moderner Mensch kann man es sich kaum vorstellen, innerlich richtig ruhig zu sein. Man betreibt Multitasking und ist ständig mit den Gedanken unterwegs.“ Allerdings. Dazu ist das Innehalten in unserer Zeit so sexy wie Atomstrom. Und auf eine Sache fokussieren? Schafft keiner mehr. Wer es hinbekommt, mal zwei Stunden still auf dem Sofa zu sitzen, schaut garantiert keinen Film ohne Werbepause – das hält man ja inzwischen gar nicht mehr aus –, sondern ist schlicht übermüdet vor der Glotze eingepennt. Zu dem kollektiv-kulturellen ADHS-Syndrom, an dem wir alle leiden, gesellt sich noch das Gewohnheitstier in uns.
Jon Kabat-Zinn, der in den 70er-Jahren in Massachusetts ein achtsamkeitsbasiertes Anti-Stressprogramm entwickelte und unzählige Arbeiten zu dem Thema veröffentlichte, prägte den Begriff des „Auto piloten-Modus“. Gemeint ist damit, dass wir auf äußere und innere Reize automatisch reagieren und eingeschliffenen Verhaltens- und Denkmustern folgen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Dazu gehört beispielsweise, morgens wie ein ferngesteuertes Auto ins Bad zu rollen und die Zähne zu putzen. Um dann dabei darüber nachzudenken, dass sie ja auch mal weißer waren, man weniger Kaffee trinken sollte und was man denn nun heute mal anzieht. Kaffee aufsetzen, Schlüssel suchen, los. Macht man immer so.
Aber wie denn auch sonst? Soll man sich als achtsamer Mensch morgens ab sofort in die Aura seiner Zahnbürste einfühlen? Nein. „Achtsamkeit soll einen auf die Erde zurückholen“, so Harrer. Und das sieht dann so aus: Wer aufmerksam ist, schrubbt nicht 40 Sekunden lieblos im Mund herum und denkt dabei an andere Dinge. Man putzt sich die Zähne. Hält die Bürste. Spürt die Borsten. Punkt, aus. Sehr irdisch und nicht besonders spirituell. So schlicht funktionieren Achtsamkeitsübungen übrigens: Man versucht den Moment wahrzunehmen. Beim Laufen, Atmen oder eben Zähneputzen. Die einfachsten Dinge sind eben oft sehr schwierig.
Unnütze Gedanken verbannen
Die Fokussierung auf die Gegenwart bedeutet im Übrigen auch nicht, dass man sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzt und wie eine übersteuerte Pippi Langstrumpf durch den Tag gaukelt und lieber Hüpfspiele macht, als über Karrieresprünge und Zinssteigerungen nachzudenken. Ziele sind sinnvoll –wenn man sich hinsetzt und auf sie konzentriert. Wir dürfen in Erinnerungen schwelgen oder uns von Vorfreude packen lassen, weil sich die beste Freundin nach langer Zeit zum Besuch angemeldet hat. Aber bitte schön ohne in den Gedanken abzurutschen, dass sie bestimmt wieder superschicke Klamotten trägt, die man sich nie im Leben leisten könnte. Das ist nämlich auch so ein Achtsamkeitsquerulant: das ständige Vergleichen mit „den anderen“. Hat die mehr, sieht die besser aus, warum bin ich nicht so glücklich wie die … Vergleiche summen unaufhaltsam wie ein Schwarm Mücken im Wald heran, die Blut gerochen haben. Dann sirren die Viecher um den Kopf herum, man zieht die Kapuze über die Nase, aber leiser wird das fiese Gesumse darum nicht. Mal ehrlich, diesen giftgelben Neid braucht kein Mensch, oder?
Dann lieber auf Buddha hören. Wer achtsam ist, stellt fest, mit was für unnützen Gedanken er sich just herumschlägt. Harrer: „Achtsamkeit ist der Teil in mir, der immer beobachtet, womit ich mich im Moment beschäftige. Und wenn ich mir dessen bewusst bin, wem oder was ich meine Aufmerksamkeit zuwende, habe ich die Wahl, weiterzumachen, wenn es Sinn macht – oder umzuschalten, wenn es keinen Sinn macht.“
Und wie es im Buddhismus so ist – bewertet wird nicht. Achtsamkeit sagt nicht, dass eines besser ist als das andere – es öffnet nur eine bewusste Wahl. Ob man das so im Alltag umsetzen kann und irgendwann erleuchtet aus der Umkleidekabine von H&M taumelt, ist fraglich. Aber es reicht ja erst mal, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass der Begriff „Achtsamkeit“ keine so schlechte Sache ist. Man könnte einfach die Zehen in den Sand bohren, einmal tief durchatmen und die Augen schließen. Das Wasser gluckern hören, eine träge Welle schlappt an den Strand, eine Möwe segelt vor der Sonne vorbei und schluckt kurz das Licht. Unser Leben findet jetzt statt. Nicht morgen, nicht gestern und nicht im Leben der anderen. Wir haben nur diesen einen Moment. Er wird garantiert nicht wiederkommen. Das ist das Einzige, dessen man sich wirklich verdammt sicher sein kann.
Im Jetzt leben
10 ALLTAGSTAUGLICHE ÜBUNGEN FÜR MEHR ACHTSAMKEIT
1 STILLLEBEN Auszeit für die Ohren: Lassen Sie die Nebenbei-Berieselung im Auto oder der Küche einfach mal sein. Das ist wahres Abschalten.
2 KAFFEEPAUSE Schauen Sie ordentlich tief ins Glas oder in die Tasse: Denn frischer Kaffee ist pure Sinneslust – und dabei urgesund. Sein Dampf enthält so viele Antioxidantien wie drei Orangen auf einmal.
3 ZAHNFEE Franz Kafka kaute jeden Bissen 32-mal. So penibel müssen Sie gar nicht sein. Verbannen Sie bloß den schlingenden Wolf.
4 ÜBERLISTEN To-do-Listen waren gestern, jetzt drehen wir das Prinzip um: Schreiben Sie am Ende des Tages die Dinge auf, die Sie geschafft haben. Das bringt mehr Spaß.
5 SHOOTINGSTAR Schnappen Sie Ihren Fotoapparat, laufen Sie los und knipsen Sie, was gefällt. Fotografieren ist gerade hip – wichtiger ist aber, dass es den Geist fokussiert.
6 DUSCHTRAUM Morgens hopsen wir unter die Dusche und waschen unseren Körper wie ein Auto mit dem Hochdruckreiniger. Seien Sie etwas liebevoller: Verwöhnen Sie Ihren Körper mit Aufmerksamkeit, nehmen Sie das Duschgel und schäumen Sie sich von oben bis unten sorgfältig ein.
7 FIXPUNKT Hängen Sie ein Foto von Ihrem Liebsten oder auch von Ryan Gosling als Blickfang an die Wand und fixieren Sie das Bild, so lange es geht. Sie werden seeeeehr achtsam sein. Großes Ehrenwort.
8 MOMENTAUFNAHME Stellen Sie Ihre persönliche Playlist zusammen. Denken Sie an fünf Menschen oder Situationen und suchen Sie passende Lieder dazu heraus. Spielen Sie diese auf den MP3-Player und genießen Sie die Songs in aller Ruhe.
9 SPAZIERGANG Wir hetzen von Termin zu Termin. Nehmen Sie sich die Zeit und gehen Sie gemächlich zu Fuß. Sie werden auf dem Weg viel entdecken: den neuen Bäcker an der Ecke, das neu designte Restaurant, den netten Typen …
10 WOLKENRADAR Kindheitserinnerung: Auf dem Rücken liegend Wolken beobachten und in ihnen Tiergestalten entdecken. Nachmachen! Und nehmen Sie die Kinder gleich mit.