Der Kellner bringt gerade den dritten Milchkaffee. Am Nebentisch erzählt eine hippe Brünette von ihrer Hochzeit. Die Sonne scheint uns ins Gesicht. Und über den Gehsteig huschen geschäftige Leute, die in ihrer Eile kaum realisieren, wie nett es doch wäre, auch hier zu sitzen – und nichts zu tun. Einfach gar nichts. Was für die Franzosen geradezu ein Nationalsport ist, halten wir Deutsche für Zeitverschwendung. „Wir leben in einer Beschleunigungsgesellschaft, in der das Gefühl des Gehetztseins zum Dauerzustand geworden ist“, schreibt Ulrich Schnabel in seinem Buch „Muße. Vom Glück des Nichtstuns“ (Blessing, 288 S., 19,95 €). „Leistung wird über alles gestellt, zweckfreier Müßiggang gilt dagegen als unproduktiv.“
Und so hecheln wir lieber von einem Termin zum nächsten, machen jedes Date und jedes Projekt möglich – und versuchen, möglichst viele Häkchen in nie endende To-do-Listen zu setzen. „Fahrig, fremdgesteuert und irgendwie nur halb anwesend fühlen wir uns dabei“, beobachtet Schnabel. Weil wir uns immer erreichbar halten und das Erlebnisangebot maximiert ist. „Was dabei auf der Strecke bleibt, sind die Ruhe zum Nachdenken und die Wertschätzung unseres Lebens selbst.“ Uns der Muße hinzugeben, hätten wir weitgehend verlernt. Paradox erscheint allerdings, dass wir uns bei aller Beschäftigung nichts sehnlicher wünschen als mehr Zeit zum Trödeln und Tagträumen. Bei einer Allensbach-Umfrage antwortete die große Mehrheit auf die Frage, was sie an ihrem Charakter am liebsten verändern würden, mit „Ich wäre gern viel ruhiger“. Forsa fand derweil heraus, dass 67 Prozent der Befragten sich vor allem mehr Zeit für sich wünschten. Damit es an der Umsetzung nicht länger hapert, kommen hier Lizenzen zum Faulenzen, Mach-dich-locker-Regeln und gute Gründe, um endlich wieder mehr Zeit für sich selbst zu reservieren – ohne schlechtes Gewissen und Rechtfertigungszwänge!
Auszeit für Aha-Momente
Wenn Yoga-Gurus und Achtsamkeitstrainer propagieren, man möge sich in der Kunst des Meditierens, Gärtnerns oder Häkelns üben, mag die ein oder andere noch milde lächeln. Neuerdings stimmen aber auch Hirnforscher in den Pro-Pausen-Chor ein. Einer von ihnen ist der amerikanische Kognitionswissenschaftler Andrew Smart, der in seinem Buch „Öfter mal auf Autopilot. Warum Nichtstun so wichtig ist“ (Goldmann, 208 S., 8,99 €) dringend rät, unserem Köpfchen regelmäßig Ruhe zu gönnen. „Auch wenn unser Geist für intensive Aktivitäten außerordentlich gut entwickelt ist, muss unser Gehirn, um normal funktionieren zu können, sehr häufig müßig sein.“ Nicht indem wir uns bräsig vor dem Fernseher ablegen und zu Telenovelas chillen. Sondern indem wir echte Brachzeiten einplanen: Während wir entspannt auf der Matte liegen, zu unserer Lieblingsmusik tanzen oder in der Natur spazieren, wird ein Areal im Hirn aktiv, das sich Ruhezustand-Netzwerk nennt. Es sortiert, reflektiert und verknüpft Empfindungen und Erinnerungen zu neuen Ideen. Und die bescheren uns nicht nur kreative Aha-Momente, sondern stärken auch die Selbsterkenntnis. Umgekehrt schädigt chronische Geschäftigkeit das Herz-Kreislauf-System ebenso wie das emotionale Wohlbefinden. Noch eine Möglichkeit
der Muße: Die Idler Academy in London bietet Kurse für gepflegtes Nichtstun an. Wer keine Zeit (!) hat, beim Trödelexperten Tom Hodgkinson vor Ort einzuchecken, bucht einen seiner Online-Classes (idler.co.uk/shop/academy) – und macht es sich dabei gemütlich.
Mit Monotasking mehr erreichen
Frauen können ja bekanntermaßen viele Dinge gleichzeitig: essen und schminken, wickeln und telefonieren, Auto fahren und Streit schlichten. Weil Studien aber inzwischen widerlegt haben, dass Multitasking-Talente am Ende des Tages effektiver sind, kommt nun Monotasking in Mode: Vorreiter der Eins-zur-Zeit-Bewegung ist der italienische Produktdesigner Paolo Cardini. Er erfand eine Hülle fürs Handy, die große Teile des Displays verdeckt, um sich auf einzelne Funktionen zu besinnen. Sein Präsentationsfilm im Netz, der eigentlich nur als Provokation gedacht war, bescherte ihm binnen kürzester Zeit mehr als eine Million Klicks bei Youtube. Weil so viele Menschen erleichtert waren, nicht mehr multiaktiv sein zu müssen, setzten sich im Zuge dessen ganz neue Regeln durch: Immer öfter sieht man jetzt Handystapel auf Restauranttischen – und der Erste in der Runde, der danach greift, muss die Rechnung begleichen. Betriebsräte stellen die Mailprogramme ihrer Mitarbeiter so ein, dass sie nur zu bestimmten Tageszeiten Post empfangen. Und neue Apps wie „Sende.Pause“ (Android), „Pause“ (iOS) sorgen dafür, dass das Smartphone sich phasenweise aus dem Netz verabschiedet – oder nur als VIP markierte Kontakte durchstellt. Relaxter Rat: Mehr Zeit für sich hat am Ende auch, wer beim Einkauf auf mono statt multi setzt. Wählt man ein Geschäft, das nicht so viel Auswahl hat, bleibt Zeit für ein entspanntes Eis.
Raus aus der Rechtfertigungsfalle
„Hermann?“ – „Ja?“ – „Was machst du da?“ – „Nichts!“ „Überhaupt nichts?“ – „Nein, ich sitze hier!“ – „Denkst du irgendwas?“ – „Nichts Besonderes.“ – „Es könnte ja nicht schaden, wenn du mal etwas spazieren gingest!“ – „Nein, nein.“ – „Jetzt hättest du doch mal Zeit, irgendwas zu tun, was dir Spaß macht!“ – „Das tue ich ja!“ Die legendäre „Feierabend“-Szene von Loriot, die sich vor fast vierzig Jahren im Wohnzimmer des Comic-Ehepaars um Berta und Hermann abspielte, hat durchaus aktuelle Bezüge. Nie mussten wir uns so vehement rechtfertigen wie heute, wenn wir uns dem allgemeinen Aktionismus nicht anschließen wollen. „Eine Verweigerung jeglicher Aktivität passt nicht ins Raster unserer gesellschaftlichen Wertvorstellungen“, sagt Ulrich Schnabel. Oftmals sind es aber nicht nur Verpflichtungen und Erwartungen anderer, sondern auch unsere eigenen Gewohnheiten, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Kaum naht das Wochenende, müssen schnellstens Segeltörns und Shoppingtouren verabredet werden, um die freien Tage sinnvoll zu nutzen – obwohl wir
die Kollegin heimlich beneiden, die den gesamten Sonntag auf dem Balkon verbracht hat. „Der erste Schritt zur Muße besteht darin, die inneren und äußeren Widerstände überhaupt wahrzunehmen“, so Schnabel. „Im zweiten Schritt lernen Sie, Nein zu sagen. Nein zu diversen Angeboten – aber auch zu unserem Drang, solchen Ablenkungen bereitwillig zu folgen.“ „Individual Downsizing“ nennt Tom Hodgkinson („Anleitung zum Müßiggang“, Insel, 375 S., 8,99 €) das Konzept. Also sich immer mal wieder bewusst zu beschränken und im Kalender „Nichts“ zu notieren – ohne ellenlange Erklärungen abzuliefern. Auch eine faule Idee: Die Sonne scheint und alle stürmen ins Freibad? Mutieren Sie doch mal zum Stubenhocker und puzzeln drinnen für sich herum. Herrlich!
Kleine Katastrophen auskosten
Früher hat man sich schlicht einer kerze bedient und den Nachbarn auf ein (nicht ganz so kühles) Getränk besucht, wenn der Strom für ein, zwei Stündchen ausfiel. Heute hat jeder Horst ein Notstromaggregat, postet bei Facebook „Aaaah, Blackout!“ und strickt im Kopf wilde Plan Bs, statt sich locker zu machen. Ähnlich ergeht es auf der Strecke gebliebenen Bahnreisenden und hibbeligen Wartezimmer-Patienten. Unser Nützlichkeitsdenken treibt uns so weit, dass wir selbst kurze Fußwege schwer ohne Nebenbeschäftigung ertragen. Dabei sind unfreiwillige Pausen doch eine prima Gelegenheit, um eine Runde Luftpolsterfolie zu knacken, auf ein Postkartenpanorama zu starren (ist laut Studien fast so erholsam wie eine Bergwanderung!) oder in aller Seelenruhe auf seinen Atem zu horchen. „Wir kommen kaum noch dazu, das Leben als das zu sehen, was es ist: ein einmaliges Geschenk“, sagt der Autor Ulrich Schnabel. „Um sich daran zu erinnern, sind einfache Übungen des In-der-Welt-Seins Gold wert.“ Wer regelmäßig trainiert, fünf bis zehn Minuten dazusitzen und keinerlei Gedanken an Abholzeiten, Zahlungsfristen und Wäscheberge zu verschwenden, macht sich von äußeren Taktgebern nachhaltig unabhängig. Bummeliger Rat des Autoren: mal ein brasilianisches Wochenende einlegen. Soll heißen: Alle Uhren umdrehen, Freunde ohne Zeitangabe einladen, schauen, wer wann kommt und was sich ergibt. Gut für den Flow!
Sternstunden erleben
Eine Fortbildung, die den Weg zur Beförderung ebnet. Eine Couch, die der Freundin den Neid ins Gesicht treibt. Ein Kontostand, der dem Bankberater einen frühen Feierabend beschert. Nichts davon nützt uns wirklich, wenn wir dafür auf das verzichten, was das Leben ausmacht: Glücksmomente zu erleben und die Zeit zu vergessen wie ein ins Spiel versunkenes Kind. Ulrich Schnabel rät deshalb, die gängige Logik umzudrehen und sich immer mal wieder zu fragen: „Wird eine Veränderung meine Lebensqualität tatsächlich steigern?“ Mag sein, dass die Gehaltserhöhung eine lang ersehnte Reise ermöglicht. Vielleicht bedeutet sie aber auch, dass weniger Zeit für gute Gespräche bleibt – oder dass sich der gemeinsame Sport mit dem Partner erübrigt. Der
Nachhaltig verreisen
Gehören Sie auch zu denjenigen, die jeden Tag einen Zentimeter vom Maßband abschneiden, bis der ersehnte Urlaub ansteht? Mehr als verständlich. Reisen können tatsächlich ein geeignetes Mittel sein, um einen anderen Umgang mit Zeit und Muße kennenzulernen. „Das Problem ist aber, dass die meisten Leute das ganze Jahr extrem viel arbeiten und dann zwei Wochen am Strand sitzen und gar nichts tun“, sagt Hodgkinson, der in England die Zeitschrift „The Idler“ („Der Müßiggänger“ herausgibt. Kein Wunder, wenn man nervös wird und wenig mit sich anzufangen weiß. Statt sich mit Vorwürfen zu quälen („Nun habe ich schon mal frei und kann den Urlaub gar nicht genießen!“), sollte man sich laut Schnabel in den ersten Tagen eine gewisse Unruhe zugestehen. Und vielleicht erst mal schlendernd die Stadt erkunden, bevor man sich aufs Laken legt. Entspannter ist Hodgkinson zufolge auch, wer Job und Freizeit nicht als Gegensätze begreift und Mußezeiten bereits in den Alltag einbaut. Die Sehnsucht nach Ferien sinke, sobald man sich im Job um mehr Eigenverantwortung bemühe. Oder sich in der übrigen Zeit selbstbestimmte Freiräume schafft – am besten ritualisiert. Noch ein Tipp für Weltenbummler: Ariel Rubinstein sammelt auf seinem Blog „Coffee Places where you can think“ (arielrubinstein.tau.ac.il/ univ-coffee.html) coole Rückzugsorte, um zu sich zu finden. Hin da, aber bloß nicht hetzen!