

Kenzo hat zu allem was zu sagen. Rezepte für Leibgerichte, die den Namen "Le Tigre qui pleure" tragen, Zutaten und Schütteltechniken für Cocktails, Musik und Fernsehserien – das alles findet sich auf dem Kenzo-Blog. "Die neue Staffel von 'Arrested Development‘ ist raus! Unsere Lieblingscharaktere tragen jetzt noch verrücktere Klamotten!", posten die neuen Designer Carol Lim und Humberto Leon zwischen Fotos ihrer Kollektion. Und die Band Chateau Marmont hat gerade ihr Lied "Invisible Eye" samt Video veröffentlicht. Das passt super zu Kenzos aktuellem Augenmotiv und verdient ebenfalls einen Blog-Eintrag. Lim und Leon liefern nicht nur witzige, überraschende Looks. Sie zeigen auch, was sie dazu inspiriert. Die beiden entwerfen Mode, die mit unserem Leben zu tun haben und zu uns gehören soll. Deshalb vermarkten sie ihre Kollektionen auf neue Art und Weise: auf Augenhöhe, zum Anfassen. Wie ein Freund, der genau das mag, was wir auch mögen. Wie ein Facebook-Bekannter, der die besten Fundstücke aus dem Netz mit uns teilt. Die Strategie geht auf. Rund 500.000 Leuten gefällt die Facebook-Seite (beim angesagten schwedischen Label Acne sind es 380.000).
Kenzo, die fast vergessene Marke, ist wieder überall.
Das Augenmotiv blickt von Sweatshirts, Taschen, Hosen und iPhone-Hüllen. Menschen zwischen 20 und 40 werfen sich enthusiastisch in die bunten, krass bedruckten Entwürfe und tragen auf der Brust das große Kenzo-K spazieren, als wären große Logo-Prints niemals verpönt gewesen. Signature-Pieces wie die Sweatshirts mit dem Tigerkopf waren binnen Stunden ausverkauft. Noch vor drei Jahren hätte niemand damit gerechnet, kein Mensch scherte sich mehr um die gut 40 Jahre alte Marke. Aus den Kollektionskritiken sprach eher Respekt als Begeisterung. Kenzo hatte eine dicke Staubschicht angesetzt. Dabei war das Label einst als Supernova am Modehimmel aufgetaucht.

Die Ursprünge von Kenzo
Der japanische Designer Kenzo Takada gründete es 1970 in Paris, 31 Jahre war er alt, fünf Jahre zuvor war er nach Frankreich gekommen. Die Stoffe für seine erste Kollektion klaubte er auf Flohmärkten zusammen – mehr gab sein Budget nicht her. Die Schau war ein Riesenerfolg, die französische Zeitschrift „Elle“ hob einen seiner Entwürfe auf den Titel. Den Stil prägten Kreuzungen aus asiatischen und europäischen Schnitten, Blumenmuster, ein fröhlich-bunter, aber virtuos abgestimmter Mix aus allem Möglichen. "Ich inspiriere mich an Kunst und Filmen", sagte Takada einst. "Reisen bringen wunderbare Einflüsse, ich liebe alle Kulturen. Später schwelge ich in Erinnerungen. Dann zeichne ich." Noch im Gründungsjahr eröffnete er seine Boutique Jungle Jap – Jap für japonais –, 1972 musste er seine Show unterbrechen, weil zu viele Fans hineindrängten. Seine Defilees zeigte er in Zirkuszelten, bei seiner funky Fashion Show im legendären New Yorker Studio 54 tanzten 1977 Grace Jones und Jerry Hall. 1999 zog sich Takada, der zierliche Mann mit der schulterlangen Haarmatte, als Designer komplett zurück, um nur noch zu reisen und zu malen. Sein Unternehmen hatte er schon 1993 für umgerechnet rund 70 Millionen Euro an den französischen Luxuskonzern LVMH verkauft. Seine Nachfolger mühten sich, aber ohne Erfolg.

Zwei Designer hauchen Kenzo neuen Atem ein
Bis im Juli 2011 die zwei Neuen an den Start gingen: Lim und Leon. Plötzlich sprangen Blogger, Modejournalisten und Einkäufer auf die Marke an, als hätten sie nur drauf gewartet. So viel spontane Liebe und ungebrochene Begeisterung ist selten zu spüren in der skeptischen Szene. Wie kann das sein? Vielleicht liegt es daran, dass Lim und Leon wie ein zeitgemäßer Katalysator für Takadas Ideen wirken. Sein altes Tigermotiv und die Folklorethemen treffen auf große Logos, Bomberjackenschnitte und Neopren. Das Duo reißt die Grenzen ein zwischen den Archiven des Labels und seiner eigenen, heutigen Welt. Auch die Mauern im Pariser Atelier mussten fallen: Aus dem kreativen Zentrum machten die beiden einen Großraum. Nach anfänglichem Murren gewöhnten sich die Mitarbeiter an den neuen Arbeitsstil. "Es ist, als sei Kenzo Takada wieder da", zitiert Fashionista.com eine langjährige Angestellte der Modefirma. Auch Takada selbst zeige sich angetan, erzählten Lim und Leon dem britischen Magazin "Stylist“: „Wir trafen ihn zufällig in einem Pariser Restaurant. 'I like! I like!‘, rief er.“ Takada spricht nicht so gut Englisch.

Selbst die Chefs des Mutterkonzerns LVMH liebten Lim und Leon von Anfang an. Die Entscheidung für sie sei binnen zwei Tagen gefallen, erzählen die zwei Designer. Allerdings waren die beiden 38-jährigen Amerikaner keine Unbekannten in der Branche. Sie kannten sich aus Berkeley, wo Lim Wirtschaft studierte und Leon bildende Kunst. Die beiden stromerten gemeinsam durch Shoppingmalls und Vintage-Läden, teilten ihre Leidenschaft für Mode, sprachen stundenlang über wechselnde Strömungen und Trends. 2002 eröffneten sie in New York die erste Boutique ihrer Kette Open Ceremony. Die persönliche und zugleich weltumspannende Note macht die Läden bis heute zur Kultadresse: Sie bieten Kollektionen wechselnder junger Designer aus allen Kontinenten, die Lim und Leon danach auswählen, ob sie wohl ihren Freunden gefallen.
Die Anfänge als Modedesigner
Die eigene Linie, für die anfangs nur Leons Mutter strickte, ist ansehnlich gewachsen und schwer gefragt. Die Designer kooperieren mit anderen Labels, und sie arbeiten mit modeaffinen It-Girls wie der Schauspielerin Chloë Sevigny, die jetzt bei Open Ceremony ihre erste Kollektion gelauncht hat. Als Models fungieren gern die eigenen Verkäuferinnen, und wenn andere Kreative für die Kette arbeiten, interviewen Lim und Leon sie gern für ihr Blog zu Lieblingsbands und Jugenderinnerungen. Nach zehn Jahren Erfolg mit ihren Boutiquen brauchten die beiden eine neue Aufgabe und traten bei Kenzo gegen rund 30 andere Bewerber an.
Die Neuinterpretation von Kenzo
Lim und Leon zeigten ihre Ideen, wie sie die Marke neu interpretieren würden und – ebenso überzeugend – wie sie das ganze Kenzo-Universum umkrempeln würden. Den Onlineshop, das Merchandising, das Blog und die Posts, die Läden, die Preise. "Wir kontrollieren alles selbst", sagte Leon. Die Reisen, die Takada einst unternahm, treten sie auch selbst an, in der realen Welt ebenso wie in der virtuellen. Musik, Filme, Essen, Kontakte – die Zusammenarbeit mit anderen Marken macht einen großen Teil der Arbeit aus. Und sie hilft, junge Kunden auf sich aufmerksam zu machen. Die klassischen Vans-Sneakers oder Basecaps von New Era mit Kenzos Augen- und Tigermotiven ködern all jene, die eher zu Streetwear-Kultlabeln greifen als zur Couture. Auch nicht zu vergessen: Kenzo senkte die Preise. Die ganze Demokratisierung der Marke ergäbe keinen Sinn, wenn nur gut verdienende Mittdreißiger ihre satten Gehälter in eine 600-Euro-Bluse investieren könnten. Aber eine Bluse für 260 Euro oder ein Sweatshirt für 200 Euro leisten sich auch Jüngere, wenn sie wirklich scharf drauf sind. Mit dieser Strategie steht Kenzo nicht allein: Auch Acne und das ebenfalls verjüngte Carven setzen auf bezahlbare und tragbare Kleider. Schon greift die Fashioncrowd erfreut zu und dankt die Preispolitik mit lobenden Kritiken.

Eine Marke und ihre Geschäfte sollten einladend wirken, das finden die Kenzo-Designer wichtig. Es soll Spaß machen, in ihren Läden zu stöbern, und es sei auch in Ordnung, nichts zu kaufen. Genauso wie es Spaß machen soll, sich durch die Website zu klicken und mit dem Mauszeiger die Logo-Buchstaben durcheinanderzuwirbeln. Kenzo ist ein Label, das sich nicht so ernst nimmt wie viele altehrwürdige Couture-Häuser. Es liefert Mode zum Anfassen, für Freunde. Und diese Freunde dürfen sich ganz auf der Höhe der Zeit und eng verbunden mit der In-Crowd der Metropolen fühlen. Lim und Leon vernetzten alles und jeden: Popkultur, Hochkultur, virtuelle und reale Welt – und sogar den Himmel samt Wolken, Tigergöttern, religiösen Symbolen und asiatischem Tempelchic. Alles wird im Kenzo-Kosmos verwoben. Das schützende Auge schmückt unseren Mantel und passt auf unser iPhone auf. Und wenn wir das Onlinerezept "Le Tigre qui pleure“ nachkochen, dann weint der Tiger sogar in unserer Küche.