
Sogar die Wellen schwappen im Takt. Wahrscheinlich liegt es an der Musik, die aus allen Richtungen über den Strand wabert und das Wasser und die kleinen Fische darin zum Mitwippen bringt. Vielleicht ist es auch die Magie der Insel. Ein besonderer Spirit, der nach Meinung der Hippies von dem Felsen Es Vedrà ausgeht, der vor der Westküste im Meer liegt und der letzte Teil von Atlantis sein soll.
VON DER MAGIE SPÜRE ICH – NICHTS.
In erster Linie finde ich Ibiza laut – und zugegebenermaßen unterhaltsam. Ich sitze im Sand und blicke auf den Strand Playa d’en Bossa vor mir, über den die Horden der Vergnügungssüchtigen ziehen. Halbnackte und Engländer marschieren vorbei, halbnackte spanische (und ziemlich hübsche) Mädchen und Transvestiten tanzen und machen Werbung für einen Club, halbnackte Deutsche, Italiener und Franzosen. Die meisten Muskeln sind gestählt und geölt, die Brüste mit Silikon gefüllt, Nägel glitzern, Tattoos ringeln sich über die Haut. Offenbar sind gerade Körperbemalungen angesagt, viele tragen aufgepinselte Leoparden-Flecken, schwarze Flammen oder Glitzer auf den Schultern und der Brust. Keine Frage, auf Ibiza geht es an diesem Strand nur um eins: seinen Körper zu zeigen und zu feiern. Ruhe? Die gibt es hier nicht.
Wobei man sagen muss: Dafür kommt ja auch keiner – oder die wenigsten. 1,5 Millionen Besucher landen pro Jahr auf Ibiza, und das Gros sucht nicht die Stille, sondern die nächste Party. Die meisten sind Briten, und das hat Tradition, schließlich wurde die Insel Mitte der 1930er-Jahre von britischen Touristen entdeckt. Durch den Spanischen Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg versickerte die Reiselust, nach Kriegsende kehrten die ersten Touristen zurück. In den 60ern kamen die Aussteiger, in den 1970ern die Massen, und seit den 1980ern wird getanzt. Der DJ Sven Väth erzählte einmal im „Tagesspiegel“, dass Ibiza seine Initialzündung war, für alles, was später in seinem Leben musikalisch wichtig wurde. Das war 1981. Schon damals existierten gut laufende Clubs auf Ibiza – wie das Pacha, das Amnesia und das Ku. Open-Air-Clubs mit Tausenden von Tanzenden. Jean Paul Gaultier hüpfte hier durch die Nacht, Grace Jones und die Jungs von „Duran Duran“. Dazwischen trommelten Hippies auf ihren Congas oder spielten auf dem Didgeridoo, der Himmel war blau, das Meer auch – und die Partygäste sowieso. Stichwort Drogen. Es wurde geschluckt, geraucht, geschnüffelt und geschnieft. Ibiza trägt den Beinamen „La Isla Blanca“, „die weiße Insel“, nicht nur wegen des Salzes, das in Las Salinas im Süden der Insel gewonnen wird, sondern auch wegen des weißen Pulvers, das bis heute gern und oft konsumiert wird.
ICH KLOPFE MIR DEN SAND VON DEN BEINEN
und verlasse das lustige Strandleben, um eine Inseltour mit dem Jeep zu machen. Gefahren wird der Wagen von Inès Barroso, einer Spanierin, die in Deutschland geboren wurde und mit 18 in den Süden zog. Ihr Haar ist pragmatisch kurz, die Augen so graugrün wie das Meer bei schlechtem Wetter – und wer eine Ahnung davon bekommen will, wie es auf der Insel einst zuging, ist bei Inès hervorragend aufgehoben. Inès war einmal Hippie, wobei – das bleibt man wohl für immer. Zumindest sagt die 53-Jährige Sätze wie „Du musst die Bucht fühlen“, während sie den Wagen in die Berge lenkt. Inès erklärt mir, dass die großen Clubs und die Aussteiger-Mädchen damals in einer Art Symbiose lebten. Man kam umsonst in jeden Laden rein und musste keinen Cent für Getränke ausgeben. „In den 80ern gab es keine Go-Gos. Das waren wir.“
IRGENDWANN FAND DAS SÜSSE PARTYLEBEN EIN ENDE.
Die Clubs begannen auf das Geld zu gucken, das Leben wurde schneller, kommerzieller und härter. Inès knallt den dritten Gang rein, gibt Gas und erzählt: „Die Hippies gingen in den 90ern nach Indien, wenn sie zu Geld gekommen waren.“ Wir schweigen eine Weile, dann frage ich sie vorsichtig, warum sie noch immer hier lebt. Sie zuckt mit den Schultern. „Wenn man hierbleibt, ist es, weil man die Insel liebt.“ Wir kurven vorbei in den Norden der Insel, vorbei an kleinen Buchten, großen Yachten und prächtigen Villen – wie die auf der Insel von Vladislav Do- ronin, dem Exfreund von Naomi Campbell. Für 20 000 Euro pro Tag kann man sich einmieten, erzählt mir Inès. Alles inklusive. „Na, dann geht’s ja“, sage ich und muss lachen. Vielleicht sind die Hippies nicht ganz von dieser Welt. Aber die Superreichen sind es auch nicht.
DER ORT, AN DEM ALLE ZUSAMMENFINDEN
ist der Hippiemarkt Las Dalias, den ich am nächsten Morgen besuche. Um ehrlich zu sein: Es dauert etwa dreißig Sekunden, und ich taumele über den Markt in dem schlimmsten Shopping-Rausch, in dem ich mich je befand. Was für eine herrliche Dröhnung aus Fransen, Tüchern, Schuhen, Armbändern, Perlenkettchen, Ringen, Seidenhosen, Bandanas, Hotpants und Hemden! Wunderschöne Frauen mit langen Haaren verkaufen Armbändchen voller guter Wünsche, ganze Generationen von Müttern und Töchtern bieten Lederwaren feil, am nächsten Stand probiert eine Horde von Mädchen Häkel-Bikinis an, eine Ecke weiter lässt sich eine Frau ein Henna-Tattoo auf die Schulter tupfen. Das ist wunderbar, das will ich auch! Schon nach zehn Minuten gerate ich in die Art von Delirium, in dem man selbst gebastelte Fische aus Sperrholz und chinesiche Gebetskerzen kauft, weil man sie wirklich, wirklich dringend braucht. Vor meinen Augen flirren alle Farben des Regenbogens, meine Ohren rauschen. Um wieder von meinem Trip runterzukommen, bestelle ich einen Kaffee in der lauschigen Bar in der Mitte des Marktes, setze mich ganz still hin und halte mich an der kleinen Papiertüte mit den Perlen-Armbändern fest, die ich kaufte.
UND WIE ENTKOMMT MAN DEM RUMMEL?
Ganz einfach. Man macht einen Bogen um bestimmte Gebiete. Den größten Umweg sollte man vielleicht um San Antonio an der Westküste machen, es sei denn, man hat eine Schwäche für betrunkene Briten mit aufblasbaren männlichen Geschlechtsteilen. Und dann? Dann setzt man sich in ein Auto und fährt ein bisschen über die Insel. 572 Quadratkilometer ist sie groß, das ist groß genug, um sich bei einer Tour unzählige Male auf einen Felsen zu setzen und auf das türkise Wasser zu blicken. Vielleicht sucht man sich auch einen der zahllosen Beach-Clubs und trinkt das eine oder andere eisige Bier. Wenn man sehr viele davon trinkt, spürt man den Zauber der Insel sicherlich auch – ich finde ihn allerdings an einer völlig unvermuteten Stelle. Mitten im Landesinneren, in einem winzigen Ort namens Sant Agustí. Ich setze mich auf eine kleine Mauer, die den Platz vor der schneeweißen Kirche umrahmt. Ein Pärchen schlendert vorbei, danach stromert eine schmale Katze über die warmen Steine und legt sich auf einen letzten sonnigen Flecken, bevor der Abend anbricht. Mit einem Mal verändert sich das Licht, wird lavendelfarben und samtig, der Tag schläft ein. Schön ist es hier, denke ich so für mich hin. Dann stehe ich auf und gehe.