Warum ist eigentlich keiner mehr wild?

Warum ist eigentlich keiner mehr wild?

Frauen um die 30 machen einfach alles richtig: zielstrebig im Job, liebevoll in Familie und Beziehung, gesundheitsbewusst in der Freizeit. PETRA-Autorin Verena Carl, 43, fragt sich, ob das ein Fehler ist.

Frau Gefängnis© iStockphoto/Thinkstock
Frau Gefängnis

Einmal im Leben jeder Frau kommt der Moment, in dem sie sich zum ersten Mal so richtig alt fühlt. Zum Beispiel, wenn der Türsteher des neuen In-Clubs sie rehäugig anblickt und fragt: "Sie möchten doch bestimmt Ihre Tochter abholen?" Oder in der Umkleidekabine, wenn ihr klar wird, dass das Bauchfrei-Top zwar wiederkommt, aber nicht mehr der eigene Vorzeige-Bauch. Ganz sicher aber dann, wenn sie zum ersten Mal zu einer Freundin diesen Satz sagt: "Ich versteh’ die jungen Leute einfach nicht."

Junge Frauen heute sind nicht mehr wild

Bei mir war es vor ein paar Monaten so weit, ausgerechnet auf dem Junggesellinnenabschied einer deutlich jüngeren Freundin. Dass die Mädels, mit denen ich an diesem Abend unterwegs war, im Restaurant mehrheitlich Rhabarberschorle tranken und ich Rotwein, hatte mich schon stutzig gemacht. Später verschwendeten sie auch noch eine halbe Stunde kostbare Lebenszeit, um eine Bar mit Rauchverbot zu suchen. Und am Ende war ich nicht einmal die Erste, die nach Hause ging. Später, im Taxi nach Hause, kam ich ins Grübeln. Wann hatte zuletzt eine von ihnen nach einer durchgemachten Nacht mitten unter der Woche barfuß am Elbstrand gesessen? An einem sonnigen Nachmittag grundlos einen Sekt auf Eis bestellt? Oder gar an einem Strand in Australien oder Brasilien mit einem Surfer geknutscht, dessen Namen sie vor lauter Aufregung schon wieder vergessen hatte? Diese jungen Frauen waren anders.

Die neue Vernünftigkeit

Und auf eine Weise erwachsen, wie ich es vor zehn, fünfzehn Jahren nicht gewesen war: mit klaren Karriereplänen, festen Beziehungen, sportlich-edlen Klamotten, richtig angezogen für jede Gelegenheit. Frauen, die man nachts um drei wecken könnte und sie fragen, wo sie sich in fünf Jahren beruflich sehen. Frauen, die samstags mit ihren ebenso stilbewussten Müttern zum Shoppen gehen, scheinbar völlig mit sich und der Welt im Reinen. Ein wenig bewunderte ich sie, ein wenig wunderte ich mich über sie. Und ein wenig taten sie mir leid. Denn bei aller Perfektion fehlte ihnen etwas: Leichtigkeit. Mir fiel ein Satz des Schriftstellers Alfred Andersch ein: "Man kann alles richtig machen und dabei das Wichtigste versäumen."

Stephan Grünewald ist Mitbegründer des Kölner "Rheingold"-Instituts und ein Experte für gesellschaftliche Befindlichkeiten. In seinem neuen Buch („Die erschöpfte Gesellschaft – Warum Deutschland neu träumen muss“, Campus, 19,99 Euro) liefert der Psychologe die Fakten zu meinen Fragen. Und bestätigt: "Die Generation der 30-Jährigen ist heute seelisch älter als die der 60-Jährigen. Während Menschen im Rentenalter alles daransetzen, jung und beweglich zu bleiben, finden ihre Kinder Sicherheit und Berechenbarkeit viel erstrebenswerter." Als "Generation Kuschel" bezeichnet er mit sanftem Spott die Jahrgänge um 1980 – und er weiß auch, woher das Harmoniebedürfnis und die Sehnsucht nach Sicherheit kommen: "Viele dieser Frauen und Männer sind in Patchworkfamilien oder bei alleinerziehenden Müttern aufgewachsen, sie haben schon als Kind gelernt, wie brüchig Beziehungen sein können. Die weltpolitischen Ereignisse der letzten Jahre, angefangen vom Terrorismus des 11. September bis zur Eurokrise, knüpfen an dieses Grundgefühl an und bestätigen sie in ihren Urängsten."

Erfahrungen aus Kindheit und Teenagerzeit, die prägen.

Der Berliner Bildungsforscher Klaus Hurrelmann hat in den Nuller-Jahren mehrere Jugendstudien des Shell-Konzerns geleitet und kennt sich deshalb ebenfalls bestens aus mit der Seelenlage der heute 30-Jährigen. Er glaubt: "Zwar sind auch früher schon Menschen mit einem Gefühl der Unsicherheit aufgewachsen, etwa der Angst vor Umweltzerstörung. Aber nie kam diese Bedrohung so nah in den privaten Bereich." Wer nicht einmal sicher sein kann, dass er mit einem guten Berufsabschluss auch einen festen Job bekommt, holt sich seine Geborgenheit anderswo. Zieht mit Mitte, Ende 20 eher mit dem langjährigen Liebsten zusammen und richtet sich eine kuschelige Höhle ein, statt die WG zu wechseln oder eine Affäre mit einer Frau anzufangen. Träumt vom Haus am See in Holstein statt von der Strandhütte auf Sumatra. Und sichert sich seinen Startvorteil auf dem Arbeitsmarkt: lieber noch einen Sprachkurs, noch ein Auslandspraktikum, noch ein Zusatzstudium, als beim Yoga im indischen Ashram zu sich selbst zu finden.

Frauen und Karriere

Dazu kommt: Frauen haben in vielen Bereichen längst ihre Mitbewerber abgehängt. In traditionell männlich dominierten Studiengängen wie Jura und Medizin sind heute über zwei Drittel weiblich. Und wer hoch hinaus will, der darf sich nicht ständig die Nächte um die Ohren schlagen oder morgens im Meeting dem aufregenden Date von gestern Abend hinterherhängen. Dazu passt, dass junge Frauen so gesundheitsbewusst leben wie nie: Nach Daten der regelmäßigen Bevölkerungsumfrage "Allbus" gibt es in dieser Altersstufe immer weniger Übergewichtige (dafür mehr übermäßig Dünne), und immer mehr, die regelmäßig sportlich aktiv sind.

Frauen leben gesundheitsbewusster

In jeder Hinsicht gut geschützt: mit Helm auf dem Fahrrad, Knieschonern beim Skaten, der digitalen Pulsanzeige, die vor zu viel Herzklopfen schützt. Zigarette nach dem Sex? Undenkbar für Überfliegerinnen: Nach dem aktuellen Suchtbericht der Bundesregierung ist Rauchen vor allem unter gebildeten Frauen total out. Das sind erst mal gute Nachrichten – keine Frage. Meine Mitstudentinnen und ich haben unser Diplom vor 20 Jahren mit viel Caipirinha und ein paar Runden "Sol"-Bier beim Mexikaner begossen, und bei meiner besten Freundin und mir lagen die Lucky Lights damals schon auf dem Frühstückstisch. Ingwertee? Nur bei Magen-Darm-Grippe. Vespa fahren mit Helm? Nur, wenn die Polizei guckt. Dieses Gefühl von Unsterblichkeit – natürlich ist es trügerisch, und wir können froh sein, dass Lunge, Leber und Knochen uns bis heute verziehen haben.

Aber wenn ich an die Ladys dieser Junggesellinnenrunde denke, würde ich dennoch gern wissen: Kann es gesund sein, so gesund zu leben? So kontrolliert, so rauschfrei in jeder Hinsicht? Mit angezogener Spaßbremse? Bildungsforscher und Jugend-Kenner Hurrelmann glaubt: Der Druck, unter dem Frauen heute stehen, braucht seine Ventile. Es sind nur andere als früher. "Statt exzessiv Party zu machen, betreiben manche zum Beispiel eine exzessive Selbstdarstellung im Internet", sagt Hurrelmann. Facebook-Statusmeldungen von jedem Schuhkauf, Feier-Fotos, auf denen man möglichst gut aussieht. Psychologe Grünewald sieht Social Networks als eine Art zweite Heimat für eine unsichere Generation: Mit 276 Freunden ist man weniger allein.

Mehr Träumen

In seinem Buch zitiert er zwei Hollywood-Erfolgsfilme, die vom Widerspruch zwischen Selbstkontrolle und Absturzsehnsucht handeln. "Hangover", der vom durchgeknallten Party-Abenteuer einer Männerclique erzählt. Und den oscar-prämierten "Black Swan", in dem Natalie Portman als disziplinierte Tänzerin nur die doppelte Hauptrolle im Ballett bekommen kann, wenn sie ihre dunkle Seite auslebt. Inklusive lesbischem Sex, Exzessen und Selbstzerstörung. Das ist ein düsterer Weg, der nicht zur Nachahmung einlädt, klar. Aber: Ein bisschen lockerlassen, ein bisschen mehr Herz als Kopf, ein bisschen mehr dem schönen, wilden Zufall eine Chance geben – das könnte ganz gut tun. Stephan Grünewald empfiehlt: mehr träumen. Sich etwas Zeit lassen. Reisen – nicht unbedingt an ein Ziel, das sich gut im Lebenslauf macht, sondern nach Lust und Laune dorthin, wohin es einen zieht. Und dort nicht nur am Strand liegen oder powern bei der Aquafit-Stunde im Pool, sondern in die Kultur eintauchen, an Straßenständen essen, das Alltagsleben kennenlernen. Verschiedene Wohnformen ausprobieren – mal in eine WG ziehen, mal ins Mehrgenerationenhaus.

Kurz gesagt: Die Erlebnisse sammeln, von denen man später seinen Enkeln erzählen kann. Oder auch nicht: der One-Night-Stand mit dem Fast-Fremden in einem billigen Hotelzimmer nach einem Konzert der Lieblingsband taugt nicht für weihnachtliche Familiengespräche im Jahr 2043. Dafür läuft er vielleicht jahrzehntelang erfolgreich im eigenen Kopfkino. Die Hochzeit meiner Freundin fand vier Wochen nach dem Junggesellinnenabschiedstatt, in einem zauberhaften, leicht heruntergerockten Schloss in Brandenburg. Um Mitternacht zogen sich die älteren Verwandten zurück – bis auf einen unverwüstlichen Schwiegervater, ab ein Uhr tanzten wir in einem Kellergewölbe zu 30 Jahre alten Songs. Um drei sangen wir "Born to Be Alive", um vier brach der Braut ein Absatz ab. Als die Sonne aufging, torkelten alle miteinander barfuß in das taufeuchte Gras des Parks. Ich glaube, in diesem Moment fühlten sich alle sehr jung. Und ich, ich war erleichtert. Geht doch, dachte ich.

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