
Darüber spricht man nicht!
Woran denkt ihr, wenn ihr das Wort „Tabu“ hört? An umständlich zu erklärende Begriffe, an Sanduhren und nervtötende Quietschlaute, an wildes Geschrei und endlose Debatten über eigentlich verbotene Wörter? Dann gehört ihr vielleicht tatsächlich zu denjenigen, die die vermeintlich enttabuisierte Gesellschaft verinnerlicht haben, diese womöglich sogar weiter vorantreiben, weil „Tabu“ für euch nichts anderes mehr ist als ein (meistens, aber nicht immer) vergnügliches Gesellschaftsspiel.
Dabei sind Tabus – also richtige und nicht bloß solche, die auf Spielkarten abgedruckt sind und die der Begrifflichkeit in ihrer Tragweite somit gar nicht gerecht werden können – oft alles andere als vergnüglich, sie sind auch oft gar kein Spiel, sie drehen sich um ernste und schwerwiegende genauso wie um alltägliche Themen. Auch wenn ihre Aufgabe im Grunde genommen daran besteht, eine tiefere Auseinandersetzung mit diesen ernsten und schwerwiegenden Themen zu vermeiden, sie zu verbieten. Meist ohne große Erklärung, sondern mit dem seit der Kindheit vertrauten, peinlich berührten „Darüber spricht man nicht.“
Woraus sich wohl auch Sigmund Freuds Erkenntnis speist, dass Tabuverbote jeder Begründung entbehren, dabei unbekannter Herkunft sind und für uns unverständlich. Sie sind nicht wie religiöse Verbote (die auf Gottes Gebote zurückgeführt werden können) oder moralische Verbote (die zumindest in ihrer Notwendigkeit begründet werden). Während über die übrigen Erkenntnisse in Freuds „Tabu und Totem“ sicherlich auch heute noch genug Stoff für lebhafte Debatten liefern würden, so scheint die einfache Feststellung zum Tabu doch irgendwie aus der eigenen Lebenserfahrung nachvollziehbar.
Die Betonung liegt allerdings bei genauerer Betrachtung auf dem „irgendwie“, denn natürlich stehen hinter den Tabus Gründe – soziale, religiöse (wie es auch gemäß dem polynesischen Ursprung des Wortes der Fall war) oder psychologische Hintergründe erschaffen Tabus. Die sind vielleicht individuell nicht verständlich und nachvollziehbar, aber das ändert erstmal nichts daran, dass sie gesellschaftlicher Konsens sein können.
Das Tabu und seine Ambivalenz
Womit Freud allerdings Recht hatte: Tabus haftet oft eine gewisse Ambivalenz an. Was wiederum bei vielen Menschen zu der Fehlannahme führt, es gäbe heute viel weniger Tabus als noch vor einigen Jahrzehnten. Die alten 68er beispielsweise stehen unter anderem für die sexuelle Befreiung, davor war alles eine einzige Prüderie. Heute ist Sexualität allgegenwärtig und das ist nicht allein ein Verdienst einer liberaleren Denkweise oder des Internet. Außerdem ist Sexualität noch lange nicht vollständig der Sphäre des Tabus entwachsen. Im Gegenteil: Wenn es um Aufklärung im Elternhaus geht, um die erwachende Sexualität der Kinder (insbesondere der Töchter), um persönliche Vorlieben und nicht zuletzt um die Verbindung von Sexualität und Gewalt, dann herrscht oft nur betretenes Schweigen. Dieser ganze Bereich zeigt gleichzeitig, dass Tabus – wie schon angedeutet – aus unterschiedlichsten Gründen entstehen können.
- Im Fall der Sexualität ist Scham der Hauptbeweggrund, bei verschiedenen Themen zu schweigen. Deshalb wird ein solches Tabu hin und wieder auch als Anstandstabu bezeichnet, gemeint sind in beiden Fällen die Gefühle peinlicher Berührtheit, wenn es um körperliche und/oder sexuelle Angelegenheiten geht.
- Beim Thema Finanzen hingegen herrscht eher eine stillschweigende Übereinkunft, die es den Menschen gebietet, nicht über das Gehalt oder umgekehrt über eine finanzielle Misere zu sprechen.
- Hilflosigkeit spielt oftmals im Umgang mit Menschen mit einer Krankheit oder Behinderung eine Rolle. Das Unvermögen, sich in die Lage dieser Menschen hineinzuversetzen, sie ganz normal zu behandeln, führt letztendlich dazu, sie zu meiden. Das hängt gleichzeitig mit der Angst zusammen, im Miteinander einen peinlichen – oder besser: als peinlich angenommenen – Fehler zu begehen.
- Ähnlich verhält es sich mit Tabus, die aus Interesse- oder Sprachlosigkeit entstehen. Während Sprachlosigkeit üblicherweise aus der Unfähigkeit heraus entsteht, eine bestimmte Situation nicht einordnen, nachvollziehen und in Worte fassen zu können – wenn es zum Beispiel darum geht, Trost für trauernde Menschen zu finden –, so kann die Interessenlosigkeit selbst ein weiterer Grund sein. Fehlt nämlich das Interesse – um beim Beispiel zu bleiben, an der Trauer der Menschen –, werden auch keine tröstenden Worte über die Lippen kommen.
- Angst ist ebenfalls ein starkes Motiv für ein Tabu, klassisch trifft das auch das Thema Tod zu. Weil er uns an die eigene Sterblichkeit erinnert, daran, dass wir nicht immer gesund und aktiv sein werden, dass alle unsere Bemühungen im Leben letztlich darauf hinauslaufen, mit unserem Tod ein jähes Ende zu finden. Deshalb schieben wir nach wie vor alles, was mit dem Tod zu tun hat, so weit wie möglich von uns weg. Auch wenn er eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist. Aber ihn als solche behandelt zu sehen oder zu hören, bereitet uns schlichtweg Unbehagen.
- Man kann dem Tod allerdings auch mit einem anderen Tabu begegnen, nämlich der Vermeidung oder der Verleugnung: Einfach immer weitermachen, als ob das Unausweichliche gar nicht Teil des Lebens ist. Vermeidungs- oder Verleugnungsverhalten steht aber häufig auch in Zusammenhang mit Dingen, die gesellschaftlich zumindest kontrovers behandelt werden oder gänzlich als falsch empfunden werden. Das Tabu hilft in solchen Fällen dabei, die Kontroversen zu vermeiden, indem der unangenehme Sachverhalt geleugnet oder in einem anderen, weniger konfliktfreudigen Licht dargestellt wird.
Wer sich mit der Motivation von Tabus weiter auseinandersetzt, wird unter Umständen auf weitere oder andere Unterscheidungen stoßen. Bei Tabus aus Feinfühligkeit etwa spielt die Rücksichtnahme eine wichtige Rolle, sie umfasst vor allem heikle Themen wie Tod, Krankheit und – körperliche wie geistige – Unvollkommenheiten. Es überschneidet sich in gewisser Weise mit den beschriebenen Tabus aus Hilflosigkeit und aus Sprachlosigkeit – nur, dass der Typus aus Feinfühligkeit die Rücksichtnahme gegenüber den anderen in den Vordergrund stellt und weniger das eigene Unvermögen.
Die Enttabuisierung und warum es sie nicht gibt
Bis hierhin…
Tabus und das Recht der freien Meinungsäußerung
- zum Schutz gegen Beleidigungen oder Verleumdungen,
- zum Schutz gegen unlauteren Wettbewerb durch üble Nachrede (wenn es um die Produkte der Konkurrenz geht),
- zum Schutz der öffentlichen Sicherheit,
- zum Schutz der Sittlichkeit,
- zum Schutz der Jugend,
- bei übermäßiger Kritik an Staatsoberhäuptern, Gerichten oder anderen Vertretern des Staates,
- bei der Weitergabe geheimer Informationen.
Die Grenzen, die wir ziehen
Die wirklich wichtigen Tabus
Als Tabu, das eigentlich die soziale Ordnung festigen soll, hat die Political Correctness versagt, auch wenn sie für den Einzelnen ganz offenkundig eine wertvolle Funktion haben kann. Den Alltag erleichtert sie in dieser Form allerdings kaum. Dabei wäre es Herausforderung genug, sich mit den „klassischen“ Tabuthemen auseinanderzusetzen und einen Weg zu finden, diese in der Öffentlichkeit (oder auch im Privaten, das ist ja meistens schon schwer genug) ohne Vorbehalte diskutieren zu können.
Beim Thema Tod zum Beispiel sind die Briten uns Deutschen offensichtlich schon einen großen Schritt voraus und behandeln alle erdenklichen Aspekte in trauter Runde in Form sogenannter „Death Cafés“. Was klingt, wie die altbekannten Kaffeekränzchen von Senioren im fortgeschrittenen Alter, in denen allerlei Wehwehchen und das herannahende Ende dann doch irgendwie ganz legitime Gesprächsthemen sind, zielt eigentlich darauf ab, sich nicht mehr alleine mit den persönlichen Sorgen und Gedanken beschäftigen zu müssen. Was vielen Betroffenen mit Tabuerkrankungen weiterhin als einzige Möglichkeit bleibt: Ihre Beschwerden bleiben unbehandelt, weil die Scham zu groß ist – da werden lieber weitere Einschränkungen der körperlichen Gesundheit in Kauf genommen, als offen eine unangenehme Diagnose anzusprechen.
Das Problem beschränkt sich aber nicht allein auf Fußpilz, Inkontinenz oder Impotenz. Krankheiten widersprechen der Vorstellung von einer leistungsfähigen, gesunden Gesellschaft und werden deswegen nach Möglichkeit gerne ausgeblendet. Die Sensibilität besonders für psychische Erkrankungen mag zwar mittlerweile größer geworden sein, aber das heißt wiederum nicht, dass damit alle Vorbehalte gegenüber Diagnosen wie Demenz oder Depression überwunden wären.
Solcherlei Beispiele ließen sich nach wie vor reichlich finden. Ist Homosexualität oder Bisexualität (von Sexualität im Allgemeinen ganz zu schweigen!) wirklich kein Tabuthema mehr, nur weil gleichgeschlechtliche Ehen und öffentliche Coming Outs von Prominenten möglich sind? Ist es wirklich so normal, in unserer Gesellschaft anders zu sein? Und wie ist es mit der Religion? Die ist selbst in einer mutmaßlich toleranten und aufgeklärten Gesellschaft wie der unseren immer noch heikel und das umso mehr, als ein buntes Gemisch verschiedenster Religionen gleichzeitig auch bedeutet, auf mehr unterschiedliche Tabus achten zu müssen.
Was sich hieran besonders klar aufzeigen lässt: Tabus funktionieren nicht allein, indem nicht über sie gesprochen wird. Im Gegenteil ist in vielen Bereichen noch deutlich mehr Aufklärung gefragt, um sich nicht am Ende doch das Leben gegenseitig schwerer als notwendig zu machen.