

Von irgendwoher zirpt es. Ganz leise erst. Lauter, als wir uns schläfrig durch zerwühlte Kissen tasten. Das Display blendet. Ein Wisch – und die Welt ist da. Wie jeden Morgen. Wetter checken, Status ändern („Bin wach!“), Mails abrufen. Immerhin fünf neue Nachrichten, seit uns das Ding am Abend zuvor im Wegdämmern aus der Hand geglitten ist. Noch schnell fünfhundert Facebook-Freunden einen guten Morgen wünschen, dann Schatzi begrüßen, der neben uns auch schon am Tippen ist. Für das Smartphone nehmen wir uns inzwischen mehr Zeit als zum Schlafen und für unsere Liebsten. Acht Stunden und 21 Minuten täglich verbringt ein Erwachsener heute durchschnittlich mit Posts und Likes, Apps und Messages. Wir schalten nicht mehr aus, höchstens lautlos, legen es selten weiter als zehn Meter weg und greifen alle 10 bis 18 Minuten danach. Das fanden Forscher der Uni Bonn heraus, die mit ihrer App „Menthal“ das Nutzerverhalten deutscher Handybesitzer untersuchten. Die App warnt den User, wenn der Handykonsum mal wieder überhandnimmt – genutzt wird die App inzwischen von über 300000 Menschen, die sich von ihrem Mobiltelefon terrorisiert fühlen. App-Entwickler Alexander Markowetz: „Erstaunlich: Die Menschen kaufen sich alle zwei Jahre ein Gerät für 700 Euro, das sie unglücklich macht.“

Unglücklich? Nicht doch! Wir sind furchtbar gern erreichbar. Immer dabei, am Puls der Zeit, mit allen connected, rasant informiert. Ein Klick, schon sind die Dinge erledigt, schon weiß man mehr. Vorbei sind die Zeiten, in denen wir mit halb zerknülltem Stadtplan durch die Gegend irrten oder andere Menschen nach den besten Restaurants fragten. Wir blättern nicht mehr in Wörterbüchern, stöbern nicht mehr durch Videotheken, Briefe schreibt kein Mensch mehr. Hallo, schöne neue Welt. Allein: „Das permanente Streben nach Effizienz entfremdet uns von unseren ursprünglichen Zielen.“ Das behauptet Buchautor Andre Wilkens. „Die bestehen daraus, glücklich zu leben, mehr Zeit für Menschen und Tätigkeiten zu haben, die wir lieben.“ Seine These: 70 Prozent der digitalen Hilfen, die unser Leben leichter und den Alltag organisierter machen sollen, seien in Wahrheit ungesunde Zeitverschwendung. Entsprechend sagten auch 27 Prozent der Frauen in einer von PETRA in Auftrag gegebenen forsa-Umfrage, dass sie sich von ihrem Telefon gestresst fühlen. Und wenn schon jede Dritte genervt ist, wundert es nicht, dass sich zurzeit ein Trend zum Offline-Sein formiert. „Analog ist das neue Bio“, hat Wilkens sein aktuelles Buch (Metrolit, 220 S., 18 Euro) genannt und erklärt die Parallele wie folgt: „Lebensmittel sind für alle verfügbar und billiger geworden. Gleichzeitig wurden aber auch Nebenwirkungen ersichtlich: inhumane Tierhaltung, Anstieg der menschlichen Allergien, Verfettung der Gesellschaft.“ Resultierend sei daraus die „Zurück zur Natur“-Bewegung entstanden, die Herstellung und Vermarktung von Bio-Produkten. Eine ähnliche Gegenbewegung sei nun das Gefühl, analoger leben zu wollen. „Zurück zu analog“ hätte allerdings nicht das Ziel, jeglichen technischen Fortschritt rückgängig zu machen. „Sondern den digitalen Mainstream so zu beeinflussen, dass sich neue Verhaltensformen durchsetzen.“ Sind von den bis zu hundert Kurznachrichten, die wir pro Tag verschicken, am Ende 70 überflüssig? Meist dreht es sich ja darum, wer was wann kommentiert, wie die Fotos des Freundes einer Freundin aussehen, warum Person X heute nicht zu Person Y kommen kann und um wie viele Minuten sich Person Z verspäten wird. Wahrscheinlich, weil sie am Handy hängt. Was besonders absurd ist: Meist hätten die ganzen SMS durch einen Anruf ersetzt werden können. Aber telefonieren wollen wir mit unserem smarten Telefon nur noch zehn Minuten täglich.

Zwei Drittel der Deutschen sind sich durchaus bewusst, dass sie ihre Zeit verplempern, so eine Umfrage im Auftrag der App „Menthal“. Und einer Umfrage der DAK zufolge haben 30 Prozent der Deutschen sogar den festen Vorsatz, in Sachen Smartphone kürzerzutreten. Warum stieren sie dann trotzdem drauf, sobald sie im Bus sitzen, die Mittagsverabredung kurz zur Toilette verschwindet, der Kinoabspann noch nicht ganz läuft oder endlich Zeit für den Partner wäre, abends, mit einem Glas Wein auf dem Sofa? Alexander Markowetz: „Das Smartphone ist wie ein Spielautomat. Wir erfahren etwas Neues, einen Überraschungsmoment, der uns für kurze Zeit glücklich macht.“ Als eine Art Belohnung empfänden das viele. Sein Forscherkollege Christian Montag vergleicht die exzessive Smartphone-Nutzung gar mit dem Verhalten von Nikotinabhängigen. Eine Untersuchung des Psychologen ergab, dass ein genetischer Marker, der mit Nikotinabhängigkeit assoziiert wird, auch mit Internetsucht in Zusammenhang steht. Statt in Stresssituationen oder zur Zerstreuung eine rauchen zu gehen, kriegt man den Kick durch eine Runde Quizduell oder einen netten WhatsApp-Chat. Oft würden sich regelrechte Entzugserscheinungen einstellen, wenn das Gerät gerade nicht verfügbar ist. Man spüre eine innere Unruhe, wippe mit den Beinen, sei leichter reizbar. Und frage sich ein ums andere Mal, wer jetzt gerade vergeblich anruft, welche Schreckensbotschaften auf unserer Mailbox warten, was die Welt bloß ohne uns treibt. Halten wir unseren Liebling wieder in Händen, sieht die Welt nicht besser aus: Ärzte attestieren immer mehr Menschen orthopädische Schäden, weil sie krumm und mit ewig geneigtem Kopf durch die Gegend laufen. „We never look up“ heißt ein erfolgreicher Tumblr-Blog, der den Irrsinn in Bildern festhält. Verkehrsunfälle nehmen zu, die Konzentration ab. Nicht selten sind sogar Ernährungsweisen und Schlaf-Wach-Rhythmus gestört, weil sich die Leute vom Handy zunehmend gehetzt fühlen. Werden wir jetzt etwa alle zu kranken und sozial schwachen Nerds? Vielleicht nicht, denn Rettung naht – und das ausgerechnet von denjenigen, die uns das technische Trallala überhaupt erst eingebrockt haben: Im Silicon Valley liegen „Digital Detox“- Camps im Trend. Die Teilnehmer – darunter etliche Angestellte von Google, Facebook oder Microsoft – checken scharenweise im Pfadfinderlager „Camp Navarro“ ein, um ihr analoges Ich wiederzuentdecken. Smartphones, Tablets und Digicams müssen abgegeben werden, dafür stehen Yoga, Tanzen, Verkleiden und Nacktbaden auf dem Programm. In einem hölzernen Postfach können die Camper handschriftlich verfasste Briefe einwerfen, eine Pinnwand mit Fragezetteln dient als analoge Suchmaschine. Ein rund um die Uhr geöffnetes Tee-Zelt wird zur Kommunikationsplattform. „Heutzutage ist doch jeder ein Techie“, begründet Camp-Betreiber Levi Felix die rege Nachfrage, auch unter Studenten und Rentnern.
Derlei Camps sind in Deutschland zwar noch Zukunftsmusik, dafür hat die Tourismusbranche den Stimmungswandel auch hierzulande erkannt – und wirbt zunehmend mit „Offline Retreats“ in abgeschiedenen Regionen ohne Empfang und Reizüberflutung. Bislang sind das Nischenanbieter. „Der Widerstand gegen ausufernde Handynutzung wächst aber auch in anderen Bereichen“, meint Alexander Markowetz. Unter Jugendlichen ist beispielsweise ein rapider Abfall von Facebook-Anmeldungen zu verzeichnen. Die neueste JIM-Studie besagt, dass die 12- bis 19-Jährigen gar nicht mehr daran interessiert seien, ihre Gemütslage in sozialen Netzwerken preiszugeben. Wenn überhaupt, dann suchten sie dort nach einem schnellen Austausch von Bildern und Trends. Auch unter Erwachsenen macht „Facebook-Fasten“ die Runde. Man meldet sich eine Zeitlang ab und bemerkt, dass der Verlust nicht sonderlich groß ist und man das Sinnlos-Surfen genauso gut lassen könnte. Und: Wo sonst an öffentlichen Orten nur Rauchverbote bestanden, werden immer öfter handyfreie Zonen eingerichtet. Noch ein Hinweis darauf, dass die Analog-Bewegung fruchtet: Reale Orte sind wieder im Kommen. Nicht umsonst setzt Apple seit Kurzem verstärkt auf teure Ladengeschäfte. Auch der Buchladen ums Eck verzeichnet neuerdings wieder ein Umsatzplus und trumpft mit individueller Beratung auf. Ist ja auch irgendwie besser fürs Karma, stapelweise frisch gedruckte Schätze zu durchstöbern, statt ständig standardisierte E-Mail-Empfehlungen von Amazon zu empfangen.