Her mit dem perfekten Leben

Her mit dem perfekten Leben

Die Welt ist ein Schlaraffenland, das ständig mit neuen Versuchungen lockt. Doch hat man sich endlich entschieden, ist es das falsche. Oder sind nur unsere Erwartungen nicht die Richtigen?

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Vielleicht züchte ich doch lieber Orangen in Südfrankreich.“ Rieke sitzt mir mit herunterhängenden Schultern gegenüber und nippt müde an ihrem Rotweinglas. Dabei weiß sie selbst, dass sie als Orangenbäuerin am Ende der Welt vor Ruhe und Entspannung wahrscheinlich verrückt werden würde. Rieke ist ein Karrieremensch. Höher, schneller, weiter – das war schon in der Schule ihr Motto. Immerhin hat sie das (nach einem kleinen Umweg über Münster) nach Paris, Berlin und schließlich New York gebracht, wo sie erfolgreich Ausstellungen organisiert.

Fast jedem fällt bei dieser Vita vor Bewunderung die Kinnlade herunter. Nur Rieke fühlt sich so, als säße sie noch immer in ihrer 30-qm-Wohnung in Münster. Der Satz „Irgendwie muss da doch noch mehr kommen“ ist mittlerweile zu ihrem Mantra geworden.

Wir leben heute in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, die uns vorgaukelt, alles erreichen zu können. Kaum ist man aus dem Bett aufgestanden, steht man auch schon vor einem unendlichen Büfett, von dem wir uns nur bedienen müssen. Aber egal, was wir uns auf den Teller legen, das Arrangement vom Nebenmann sieht irgendwie immer besser aus. „Neid und die Sehnsucht nach mehr sind etwas ganz Natürliches. Diese Gefühle gehören zu unserem Leben dazu“, sagt Ursula Nuber, Psychologin und Autorin des Buches „Das 11. Gebot“ (Knaur Verlag, 253 Seiten, 16,99 Euro). „Bis zu einem gewissen Grad spornt es uns sogar an, etwas aus unserem Leben zu machen. Nur vergessen wir dabei, dass nicht alles ausschließlich in unseren Händen liegt. Nennen Sie es Schicksal oder Zufall, auf jeden Fall hängt es nicht von uns ab.“ Trotzdem drehen sich viele weiter in ihrem Wunschkreis.

Meine Freundin Rieke ist da bei Weitem nicht die Einzige, der es so geht. Karen zum Beispiel ist das, was ich als Liebesjunkie bezeichnen würde. Beziehungen laufen bei ihr stets nach dem gleichen Muster ab. Zuerst kommt sie aus dem Schwärmen nicht mehr heraus: sein Lächeln, die Art wie er seinen Kaffee schlürft oder einfach nur der Klang seiner Stimme – „Das ist mein Traummann!“ Davon ist sie fast jedes Mal überzeugt. Allerdings leider immer nur so lange, bis sich plötzlich der Alltag in die bis dahin perfekte Zweisamkeit drängelt. Ein Schnarchgeräusch oder immer wieder diese lächerliche Streichbewegung, mit der er ständig seine Haare aus der Stirn wischt. Ach, und wo wir schon dabei sind: Im Bett war er auch mal besser. Höchste Zeit, weiterzuziehen. Schließlich wimmelt es draußen nur so von wahnsinnig attraktiven Kerlen, die ihren Kaffee auch leise trinken können. So ist Karen zu einer Liebesnomadin geworden – rastlos getrieben von einem Gedanken: „Das geht noch besser!“ Genau wie viele andere: Studien zufolge sehen sich 65 Prozent der fest Liierten heimlich im Netz weiter um. Immer darauf vorbereitet, auf die nächsthöhere Stufe zu springen. Wenn sie denn kommen mag…

Nur leider ist niemand perfekt, auch wenn man noch so sehr versucht, daran zu arbeiten. Und je mehr wir nach Perfektion suchen, desto weiter entfernen wir uns von der Möglichkeit, glücklich zu sein. „Persönliches Glück liegt nicht in der Vollkommenheit“, sagt Ursula Nuber. „Anstatt immer nur nach dem Besten zu suchen, sollten wir uns lieber fragen, was gut genug für uns ist.“ Mittelmaß also als Lösung aller Probleme? „Nein! Wir müssen nur erkennen, dass zu einem Leben Tiefen genauso gehören wie Höhen.“ Viele glauben, mit dem idealen Partner gäbe es keine Probleme. Doch das ist ein Irrtum. Wer immer beim ersten Luftzug die Segel streicht, wird wahrscheinlich nie erfahren, wie es ist, jemandem wirklich nah zu sein. Denn am Ende sind es vielleicht die Schmetterlinge, die uns zusammenbringen, aber sich irgendwann von seinen Schnarchgeräuschen in den Schlaf summen zu lassen – das ist Liebe!

Wer jetzt trotzdem noch auf breite Schultern und perfekte Manieren beharrt, sollte vielleicht einen kurzen Blick in den Spiegel werfen. Ein kleiner Bauchansatz? Peinliche Ticks? Herzlichen Glückwunsch – Sie sind ein ganz normaler Mensch! Diese Tatsache zu akzeptieren fällt mir übrigens genauso schwer wie meinen beiden Freundinnen Rieke und Karen. Denn wenn man mal ehrlich ist, hat doch bestimmt jeder eine ewig lange Liste von Anforderungen im Hinterkopf, die man gerne erfüllen möchte. Ich nehme mir zum Beispiel jeden Morgen nach dem Aufstehen fest vor, ab sofort mehr Sport zu treiben und weniger zu essen. Und zwar, weil ich der festen Überzeugung bin, mit den ersehnten fünf Kilo weniger auf der Waage ein anderer Mensch zu sein – schöner, ausgeglichener und viel, viel glücklicher! Allerdings kämpfe ich schon seit der Pubertät mit diesen vermeintlichen Glückskilos. Hätte ich mir mit der gleichen Intensität über all die Jahre eingeredet, dass alles gut ist, wie es eben ist, wäre ich mit Sicherheit viel zufriedener, als ich es jemals nach irgendeiner erfolgreichen Diät sein könnte.

Psychologen haben festgestellt, dass wir jede Minute zwischen 150 und 300 Worte an uns selbst richten. Viele davon sind belanglos, manche hilfreich, aber einige so gemein, dass wir sie einem anderen Menschen nie verzeihen würden. „Je kritischer wir mit uns ins Gericht gehen, desto mehr sinkt unsere Zufriedenheit mit uns selbst. Auf Dauer kann unser Selbstwertgefühl dabei sogar Schaden nehmen“, mahnt die Psychologin Ursula Nuber. Ohne es zu merken, geraten wir in eine Endlosschleife aus überhöhten Selbstanforderungen: Jeden Morgen setzen wir uns dieselben Ziele, nur um abends festzustellen, dass wir sie wieder nicht erreicht haben.

„Mehr erreichen zu wollen ist zunächst eine ganz normale und auch sehr hilfreiche Eigenschaft. Sie macht uns erfolgreich“, sagt Ursula Nuber. Ohne das Streben nach mehr hätte Einstein wahrscheinlich nicht die Relativitätstheorie entdeckt, und Picasso wäre vielleicht nur ein simpler Auftragsmaler geblieben. Nun kann aber nicht jeder ein Einstein oder Picasso sein. Mir persönlich würde eine Jennifer Aniston schon reichen. Zumindest ihr Körper. Diese Männergeschichten wären mir auf Dauer zu anstrengend. Besonders wo ich doch endlich jemanden gefunden habe, an dem ich (fast) nichts ändern will.

Zugegeben – es ist sicher keine leichte Aufgabe, sich in unserer Gesellschaft von dem „Alles ist möglich“-Gedanken frei zu machen. Schließlich wird er immer und überall mantraartig wiederholt. Und deshalb ist es für alle Riekes und Karens da draußen auch so normal geworden, mehr von sich zu erwarten, als sie zu leisten imstande sind.

Es erfordert sicher Stärke, nicht sofort aufzugeben. Es braucht aber noch mehr, sich einzugestehen, dass man an einem Punkt angekommen ist, an dem es vielleicht nicht mehr höher, schneller oder weiter geht. Das hat nichts, rein gar nichts mit Aufgeben zu tun. Im Gegenteil: Hat man erst mal für sich erkannt, was im Leben wirklich wichtig ist, wird man sich wie ein Gewinner fühlen.

Am einfachsten geht das, wenn man alle unnötigen Energiefresser aus seinem Alltag aussortiert. Ohne diese Waswäre- wenns bleibt viel mehr Zeit, um sich mit vollem Elan auf die Dinge zu stürzen, die wirklich zu erreichen sind. Auch wenn es sich zuerst nach kleinen Trippelschritten anfühlen mag, bringen die einen auf Dauer viel weiter als Riesensprünge in ein undefiniertes Nichts. Und dabei bleibt auch noch Zeit, um sich hin und wieder umzusehen. Rieke rief mich letztens an, als sie im leicht vernebelten Brooklyn am Fuße der Williamsburg-Bridge stand. Ihre Stimme klang ganz aufgeregt und enthusiastisch. „Ich schaue hier gerade auf die Lichter der Stadt, und plötzlich ist mir klar geworden, dass ich endlich angekommen bin. Ich glaube tatsächlich, ich bin glücklich!“ Das war das Schönste, was ich seit Langem aus ihrem Mund gehört habe. Und ich wünschte mir sofort, dass das Gefühl länger als nur einen vernebelten Herbstnachmittag anhalten wird.

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