
Was für eine Versuchung: glänzend vor Butter, goldbraun gebacken, darin lächeln kleine zart schmelzende Schokoladenstückchen, eine lauwarme Wollust aus Süße und Kuchenteig und fettigen Krümeln, die sich gleich behaglich an die Lippen kleben werden. Das ist kein einfacher Muffin. Dieser Muffin ist das Paradies, er macht glücklich und satt und tröstet über jeden Kummer hinweg.
Spätestens mit dem ersten Bissen mutiert er dann jedoch zum Sündenfall: ein teigiger Klops, gebacken aus schlechtem Gewissen und Bauchspeck, einer Prise Selbstquälerei, vermengt mit den flirrenden Zahlen der Badezimmerwaage. Wir stopfen ihn in uns hinein, am besten zum Latte Macchiato to go mit Non-Fat-Milk. Wir gönnen uns den Muffin als Belohnung für einen harten Tag und nutzen ihn als Rache dafür, dass man sich seit Tagen von Salatblättern ernährt hat. Seinetwegen wird man jetzt den Rest des Tages in der Fett-Hölle schmoren. Hilfe, dabei ging es doch nur um einen kleinen Kuchen zum Kaffee! Wenn man beginnt, über das Verhältnis von Frauen und Nahrung nachzudenken, kann man sich nur wundern. Ein Sprichwort sagt: „Man isst, um zu leben, und lebt nicht, um zu essen.“ Schön wär’s, oft genug existieren wir nur dafür, nichts – oder weniger – zu essen. Und wenn wir gerade nichts verspeisen, denken wir darüber nach.
81 Prozent der Frauen in Deutschland wollen laut einer Umfrage der Zeitschrift Neon abnehmen, 73 Prozent wünschen sich einen flacheren Bauch. Jeden Morgen wachen Millionen von Frauen auf, öffnen die Augen und fragen sich:,,Ist heute ein dicker Tag oder ein dünner Tag?“ Ein dünner Tag macht glücklich, an einem dicken Tag fühlt man sich mopsig und unliebenswert. Essen und Gefühle, richtig trennen kann das niemand mehr von uns. Warum ist das Thema Ernährung so kompliziert geworden – und vor allem: Gab es nicht einmal eine Zeit, in der man einfach einen Keks mampfte und es super fand? Ja, die gab es, eine Zeit vor jeder Diät und vor jeglichem Wissen um Kalorien, Kleidergrößen und Kohlehydrate.
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Sicher spielen unsere Mütter eine entscheidende Rolle bei unserem Verhältnis zum Essen. Vielleicht haben wir schon mit der Muttermilch unsere Unschuld verloren, weil wir zu diesem Zeitpunkt lernten, dass Nahrung und Liebe eins sein kann. Aber spätestens als man begriff, dass es Süßigkeiten gibt, man sie immer haben will, aber nicht immer bekommt, verknüpfte sich das Essen mit den Emotionen auf fatale Weise. War man traurig, stillte Mutti den Kummer mit einem Trostbonbon. Schlechtes Benehmen bestrafte sie mit Süßigkeitenentzug, wer lieb war, bekam einen Lolli in die Patschehand gedrückt. Sätze wie „Du bist so brav, du kriegst dafür einen Schokohasen“ frästen sich in unser Gedächtnis. Noch heute funktionieren wir nach diesem Prinzip, belohnen und bestrafen uns selbst. Allerdings sind ein paar Kom- ponenten dazugekommen: Werbebot-chaften befeuerten uns, Slogans wie „Essen gut, alles gut“ und „Du bist, was du isst“ kann jeder im Schlaf aufsagen. Wir lernten, gute von bösen Lebensmitteln zu unterscheiden – und irgendwie verlor sich auch die Trennlinie zwischen dem Nahrungsmittel und der eigenen Persönlichkeit: Erst stand die Schokolade für Liebe, dann für schlechte Zähne und bald für einen schlechten Charakter, weil man zu gierig nach ihr war.
Jedes Mädchen erfasste mit der Zeit, was „Babyspeck“ bedeutet. Manche von uns wurden „moppelig“, besaßen „schwere Knochen“, andere galten als zu dünn und wurden für ihre Hühnerbrust und die dürren Spargelbeine gehänselt. Gewichtsprobleme? Was sollte das bitte sein – was stimmte denn nicht mit unserer Figur? Schließlich durften die Jungs alles essen, damit sie groß und stark wurden. Was folgte, war der Vergleich mit den Klassenkameradinnen. Gut, irgendwie sahen die Mädels alle verschieden aus – aber manche sahen noch verschiedener aus als andere. Endgültig verhunzt wurde unser Verhältnis zum eigenen Körper durch das Schönheitsideal, das durch die Medien transportiert wurde. Wir blickten erst auf die abgeliebte Barbie in der Hand, dann auf Heather Locklear aus der Fernsehserie „Ein Colt für alle Fälle“ und Kelly aus „Beverly Hills 90210“ – und schließlich an uns herunter. Oh, ein Bauch! Der musste weg. Plötzlich steckten wir uns mit zarten 14 Jahren Bleistifte in imaginäre Bauchfalten und unter den pubertären Busen, um zu sehen, wie sehr wir der Schwerkraft und der Fettsucht schon verfallen waren - vielen Dank Kelly.
Kein Wunder, dass 1995 auf den Fidschi-Inseln 15 Prozent der Mädchen innerhalb von drei Jahren bulimisch wurden, weil ein US-amerikanischer Fernsehkanal auf Sendung ging. Nichts ist schwieriger, als sich gegen die Bilderflut zu wehren, die uns aus dem Fernseher, von Plakaten und nicht zuletzt aus Frauenzeitschriften entgegenschwappt.
Da hilft nur eins: die Diät. Okay, kleiner Witz, denn die Diät, die wirklich hilft, ist noch nicht erfunden und wird es nie. Wie auch, bei diesem Teufelskreis! Wenn Hunger nicht das Problem ist, kann Essen (oder weniger Essen) nicht die Lösung sein. Und: Blickt man zurück, erscheint die Historie der Ernährung und der verschiedenen Diäten als eine unablässige Folge von Regeln, die sich als unsinnig erwiesen. Allein all diese sich widersprechenden Abnehm-Religionen: Nach Robert Atkins, Erfinder der Atkins- Diät, war Fett erlaubt. Bei seinem Tod wog Atkins 117 Kilo. Scheint also nicht so gut funktioniert zu haben mit dem Abspecken. Bei Michel Montignac wiederum galt Fett als verpönt. Was denn nun? Monodiäten sind völlig aus der Mode, ein paar von uns versuchten es mit der Glyx-Diät und brüten noch immer bei einem Bier und einer Karotte in der Hand darüber, was es nun genau mit dem Glykämischen Index auf sich hat. Der Rest verkneift sich Kohlehydrate und träumt nachts von köstlich duftender Lasagne, von brutzelnden Kartoffelpuffern, die hinter einem herrollen, und einer Wiese voller Laugenbrezeln. Vielleicht bringt’s die Steinzeitdiät? Nee, lieber nicht, zu viel Fleisch – die armen Tiere. Also nur noch Vegetarisches aus der Biokiste nagen? Als ob die ständige Kalorienzählerei nicht schon Fluch genug wäre, serviert man uns dazu noch Druckmittel, wie Vogelgrippe, Schweinepest, EHEC-Erreger und das allgemein schlechte Gefühl, immer etwas Ungesundes oder ökologisch Fragwürdiges zu verputzen. Darauf einen Burger mit Pommes rot-weiß und einen Liter Schwipp-Schwapp zum Herunterspülen des Nahrungsmittelwahns. Prost!
Dabei ist Essen eine feine Sache. Es ist ja beileibe nicht so, dass wir die Freude daran verlernt hätten. Wir kochen wie die Verrückten, entdecken neue Zutaten und Gerichte, gucken B-Promis im Fernsehen beim Braten und Brutzeln zu. Wir tafeln, schlemmen, schmatzen und kleckern, jonglieren mit Artischocken und Granatäpfeln – schon fällt wieder ein schmaler Schatten auf die Lust. Wie schön wäre es, ein normales Verhältnis zum Essen zu pflegen! Beim Italiener sechs Gänge verspeisen, sich die Finger ablecken und ins Bett rollen – ohne darüber nachzudenken. Ganz ehrlich? Möglich ist das schon, wenn wir höflicher zu uns selbst wären. Was man sich alles an den Kopf wirft, wenn man vor dem Spiegel steht: „Fette Kuh“ ist dabei eine der freundlicheren Bezeichnungen. Jeder Mann, der solche Gemeinheiten von sich gäbe, bekäme sofort eine Klage wegen Beleidigung, Belästigung und Rufmord an den Hals. Aber: Ich bin’s ja nur, dein Feind im Spiegel.
Klar ist, dass wir nicht zurück auf „Los“ gehen können, der Drops ist gelutscht. Frauen werden immer an dem Thema Essen zu knabbern haben. Sie stillen ihre Kinder, sie kochen (meist) für die Familie, kämpfen mit und gegen überbordende Formen und unterzuckerte Vorbilder. Klar ist aber auch, dass Frauen netter zu sich selbst sein sollten. Warum genau wollte man noch mal eine Figur wie ein Marsmännchen haben? Wozu braucht der Mensch eine Waage im Badezimmer? Machen Leid- oh, pardon, Light-Produkte das Leben leichter? Und wann hat man sich das letzte Mal einen fettigen Muffin mit einem Latte macchiato gegönnt, ohne sich hinterher dafür mit Lauchstangen zu geißeln? Muss lang her sein. Schade eigentlich, denn es sollte in unserem Leben nur eine Ernährungsregel geben: „Iss nie mehr, als du tragen kannst.“ Das wusste schon Miss Piggy.