
"Cohabiting Spaces" - ein umstrittener Trend aus der USA
Feierabend. Sie schalten nach einem langen Arbeitstag Ihren Rechner aus und gehen nach Hause. Aber nicht allein. Ihre Kollegen kommen auch mit – denn Sie arbeiten nicht nur zusammen, Sie schlafen auch alle unter einem Dach. Schnippeln Gemüse fürs Abendessen, streiten sich, wer den Abwasch macht und welche Serie später geguckt wird. Ach ja, Ihre Chefin wohnt auch bei Ihnen. Sie liebt es, beim Frühstück neue Job-Ideen zu diskutieren, die ihr über Nacht gekommen sind. Nach dem Zähneputzen fahren wieder alle gemeinsam ins Büro.
Klingt nach einem Albtraum? Ist aber in den USA bereits Realität. Solche „Cohabiting Spaces“ werden vor allem bei jungen Internet-Start-ups immer beliebter. Um sich die Mieten im Silicon Valley oder in L.A. leisten zu können, verwandeln sich Firmen in Wohngemeinschaften, in denen die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit fließend verläuft. Gemeinschaft ist das neue Alleinsein. Pech für alle Don Drapers, die am liebsten schweigend ihr Ding durchziehen.
Das "Wir" steht hoch im Kurs
„Wir sind Papst“, „Wir sind Weltmeister“, „Wir sind Charlie“ – Slogans wie diese kennt inzwischen jeder. Ganz gleich, ob wir uns auf Facebook zu einer Meinung bekennen oder uns mit unseren Nachbarn einen Kartoffelacker teilen, das Wir steht hoch im Kurs. Das erkannte auch das Frankfurter Zukunftsinstitut und untersuchte in seiner Studie „Die neue Wir-Kultur“ das akute Bedürfnis nach Zusammenhalt. Unsere Gesellschaft befindet sich in einem Wandel, so das Ergebnis der Studie. Künftig, so der Wunsch vieler Menschen, wollen möglichst alle mitmachen, mitgenommen werden, dabei sein und gefragt werden. Auch Trendforscherin Li Edelkoort, die Konzerne wie Coca-Cola oder Siemens berät, sieht es ähnlich: „Individualität ist nicht mehr gefragt, Kollektivität ist angesagt. Wir werden in Zukunft entscheiden, wie wir unseren gemeinsamen Lebensraum verbessern können.“
Geteiltes Leid ist halbes Leid
Teilen, tauschen, mitbestimmen, das hört sich ja erst mal ganz schön an. Dieses Wir vermittelt Sicherheit: Hey, mir kann nichts passieren, da sind ja auch die anderen. Doch dann gibt es dieses uncoole Wir, bei dem man an gleichgeschaltete Roboterwesen denkt, die nur noch Ja und Amen sagen. Okay, das klingt jetzt nach Sciene-Fiction-Schocker, aber irgendwo dazwischen muss dieses Wir liegen, auf das wir uns einigen können. Nur, wo genau – und wie sieht es aus? Schauen wir uns um: Der Jogger, der allein seine Runden zieht, ist vielleicht schon bald ein Auslaufmodell – gemeinsames Sporteln ist angesagt. Zum Beispiel beim „Freeletics“-Outdoor-Training, wo die Nutzer per App ein personalisiertes Trainingsprogramm erhalten. Sie können sich mit anderen Sportlern verabreden oder auch deren Übungsergebnisse abrufen, um sich selbst zu motivieren. Doch die Body-Optimierung hört nicht beim Sport auf. Auf Online-Plattformen wie DietBet, FatBet oder HealthyWage kann man jetzt auch gemeinsam abnehmen und Wetten abschließen, wie viel Gewicht man in welcher Zeitverliert.
Auch in den Urlaub fährt man jetzt nur noch im Rudel. Themen-Kreuzfahrten erleben gerade einen riesigen Boom: Es gibt Reisen für Schwule, für Gourmets, für Singles, für Volksmusik- und für Heavy-Metal-Fans. Genau, ausgerechnet Headbanger im schwarzen T-Shirt, die immer stolz auf ihren Außenseiterstatus waren, schippern jetzt mit Gleichgesinnten rund um den Globus. Inklusive Vollpension und Luftgitarre-Animationsprogramm.
Und: Nie war es einfacher, sich politisch zu engagieren. Unzählige Plattformen helfen, Petitionen aufzusetzen und im Netz zirkulieren zu lassen. Dass dabei eine Million Unterschriften zusammenkommen, ist keine Seltenheit mehr. Bei campact.de etwa werden politische Kampagnen gestartet und unterstützt, die sich zum Beispiel für Nachhaltigkeit einsetzen.
Der Wunsch des Mitbestimmens
Die digitale Vernetzung hilft natürlich auch, sich spontan zu versammeln. Zu Flashmobs, Protesten oder zu Radfahr-Demonstrationen wie bei der Bewegung „Critical Mass“. Dahinter stecken Radler, die sich rund um den Globus via Facebook verabreden und auf ihren Touren durch die Großstädte für ein gleichberechtigtes Miteinander im Straßenverkehr werben wollen. Oder, wie kürzlich, beim „Ride of Silence“ verstorbener Unfallopfer gedenken.
Im Job ist ebenfalls mehr Mitspracherecht gefragt. Das heißt nicht, dass wir uns für oder gegen die Yucca-Palme auf dem Schreibtisch entscheiden können. Nein, bald dürfen wir vielleicht unseren Chef und unser Gehalt bestimmen – genauso, wie das jetzt schon in einigen Start-up-Unternehmen praktiziert wird.
Der Wunsch, mitreden zu wollen, spiegelt sich sogar da wider, wo man ihn am wenigsten erwartet: in der Welt der High Fashion. Karl Lagerfeld schickte seine Chanel-Models im letzten Jahr mit Plakaten und Schildern über den Laufsteg, auf denen sie für Frauenrechte demonstrierten. Und wo wir gerade von Mode sprechen: Auch ein Trend wie „Normcore“ – Hipster tragen bewusst durchschnittliche Kleidung, um in der Masse zu verschwinden – zeigt, dass Auffallen gerade nicht so gefragt ist. „Ich sehe auf der Straße keine Mode mehr“, erklärte Li Edelkoort kürzlich in einem Interview. „Ich sehe gut gekleidete Menschen, tolle Haare, gepflegte Gesichter, straffe Körper. Aber keine Mode.“
Die neue "Sharing-Community"
Auch wenn wir in Zukunft ziemlich langweilig aussehen werden (hoffentlich nicht!), so benehmen wir uns wenigstens anständig, denn das Thema „Sharing Economy“ setzt sich immer mehr durch – im Privaten wie in der Wirtschaft. Zum Beispiel hat Opel gerade die Carsharing-Community „CarUnity“ ins Leben gerufen, bei der jeder seinen Wagen zum Teilen freigeben kann. Die Journalistin Kirsten Brühl, die für das Zukunftsinstitut die „Wir“-Studie erstellt hat, erzählt, wie sich das Prinzip des Teilens bereits in ihrem Alltag verankert hat: „Gerade vergangene Woche stellte ich meine aussortierten Bücher in einen öffentlichen Bücherschrank. Freunde buchen ihre Zimmer über Airbnb und lernen so neue Leute kennen. Wieder andere bewirtschaften vor den Türen der Stadt ein gemeinsames Gemüsefeld.“ Kirsten Brühl findet allerdings, dass sich diese „Wirs“ deutlich voneinander unterscheiden.
Während die einen auf gemeinsamen Werten und echtem Teilen aufbauen, sind die anderen eher so etwas wie „Optimierungs-Wirs“. Entsprechend schließen sich Wir-Gefühl und Individualität nicht unbedingt aus: „Viele Beispiele, die wir in unserer Studie zitieren, dienen indirekt der Optimierung des Ichs. Denn im Kern geht es immer noch um einen selbst. Wer Dinge tauscht, tut das nicht unbedingt für eine bessere Welt, sondern weil es schlicht und einfach effizient ist.“
Der Community-Gedanke in der Food-Branche
Mit Sparsamkeit, aber noch viel mehr mit Geselligkeit hat auch ein neuer Food-Trend zu tun, der gerade aus Wien zu uns herüberschwappt: Das Gemeinschaftsessen – eine Reminiszenz an die gute alte Zeit – feiert in der Donau-Metropole ein Comeback. Dabei wird einfach eine große Pfanne auf den Tisch gestellt, den Gästen Besteck in die Hand gedrückt, und schon startet das Reinschaufeln. Da geht es ähnlich fröhlich zu wie in Hamburg, wo die Bewohner ganzer Stadtteile einmal im Jahr ihre Tische und Stühle auf die Straße schieben, sich weiß kleiden und das „White Dinner“ zelebrieren. Noch ein paar Phänomene gefällig? Streetfood-Märkte, Wohnprojekte oder temporär gemeinschaftlich genutzte Büros („Coworking Spaces“) schießen wie Pilze aus dem Boden und lassen die Nachbarschaft zusammenrücken. Ein Grund dafür ist sicher die Zunahme der Single-Haushalte. Aber auch unsere moderne Job-Kultur, die ständige Flexibilität erfordert, führt dazu, dass die Menschen in ihrer Freizeit wieder Lust auf Gruppen-Kuscheln haben.
Das neue "Wir" - ein spannendes Entwicklungsfeld
„Die neuen ‚Wirs‘ entstehen nicht automatisch“, sagt Kirsten Brühl. „Wir müssen eine Vorstellung entwickeln, wie wir zusammen leben, arbeiten und wohnen möchten. Das ist Arbeit. Aber darin liegt auch ein spannendes Entwicklungsfeld für uns alle.“
Wer möchte nicht in einer Nachbarschaft leben, die sich gegenseitig unterstützt? Mit Menschen, die sich nicht nur ihre Bohrmaschine leihen, sondern sich gemeinsam motivieren, neue Ziele zu erreichen? Auch eine Gesellschaft, in der alle ein Mitspracherecht haben, finden wir gut. Aber jedem soll genug Raum gegeben werden, um seine eigene Meinung zu bilden. Gerade das digitale „Wir“ hat oftmals keine Geduld mit Andersdenkenden, das zeigen Shitstorms: Irgendwer im Netz wird doof gefunden und niedergemacht, und alle sind schnell dabei, „Gefällt mir“ zu klicken. Trotzdem ist die Vorstellung, dass wir in Zukunft alle an einem Strang ziehen, eine schöne. Aber Traumtänzer, Verrückte und Querschießer sollte es bitte weiterhin geben. Sonst kippt das neue Wir-Gefühl schnell um in ein „Wir sind langweilig“-Gefühl.