
Keine Bewegung bleibt unbeobachtet. Jeder Schritt wird verfolgt. Der Datensammler in unserer Handtasche hat aufgezeichnet, wann wir aufgestanden sind, ob wir die Nacht zu Hause verbracht haben, wie der Sex war (sofern es dazu kam) und wie viele Martinis dazu führten. Gebündelt betrachtet ergeben diese Informationen ein beunruhigend präzises Persönlichkeitsprofil: Unser Smartphone weiß meist besser über uns Bescheid als unsere Mutter. Allerdings nur, weil wir es rund um die Uhr mit Informationen versorgen. Das passiert manchmal versehentlich, wenn wir uns mit der Technik oder den AGBs nicht richtig vertraut machen. Dann vermerkt zum Beispiel die Ortungsfunktion, wo wir uns aufhalten, ohne dass wir davon etwas mitbekommen. Oft posten wir persönliche Details aber freiwillig auf Facebook oder lassen sie von Tracking-Accessoires messen. Letzteres in der Hoffnung, dass die Technik uns hilft, bestimmte Bereiche unseres Lebens zu optimieren: unsere Gesundheit, unsere Produktivität, unsere Finanzen oder unsere sportlichen Erfolge. Wenn unsere Mutter fragt: „Kind, wann hattest du deine letzte Periode?“, empfinden wir das als Übergriff. Das Smartphone darf das. Die Vorstellung wiederum, dass Fremde aufzeichnen, wie oft wir unser Konto überziehen und was das mit unserer Migräne zu tun hat, macht uns nervös. Das ist doch Überwachung! Polizeistaat! 1984! Selbstüberwachung dagegen beruhigt. Und die Firmen, die dafür die Technik liefern, machen wir zu Vertrauten.
Beste Werbeträger der neuen Technologie sind die körperbewussten Hollywoodstars: Wenn Kristen Stewart sich morgens auf den Weg zum Set macht, verrät ihr ein Trackingarmband von Jawbone (siehe unseren Test), wie gut sie in der Nacht zuvor geschlafen hat. Schauspielkollege Ryan Reynolds zählt mit seinem FitbitFlex, wie viele Schritte er mit seinem Hund spazieren gegangen ist. Und Kate Hudson scannt die Lebensmittel, die sie isst, mit der Smartphone-App MyFitnessPal. „Mittlerweile kann ich schon abschätzen, wie viele Kalorien ein Gericht hat, sobald es auf dem Tisch steht“, sagte sie der Zeitschrift „Self“. Noch vor einigen Jahren galt diese Art der Selbstüberwachung – auch Self-Tracking genannt – als Freizeitbeschäftigung für Nerds. Doch die US-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly erkannten schon 2007 deren Potenzial. Sie berichteten über die wachsende Zahl von Menschen, die ihr Tun quantifizierten: Wohin sie mit dem Rad fuhren, was sie aßen, wie viel sie für Kleidung ausgaben oder wie viele Stunden sie im Netz surften. Selbst technikbegeistert, gaben die Journalisten dem Trend mit Quantified Self nicht nur einen Namen, sondern auch ein Zuhause: die Website quantifiedself.com. Anfangs verabredeten sich die Selbstvermesser auf der Website noch zu Treffen in kleinen Gruppen. 2011 fand dann die erste internationale Konferenz statt. Seitdem hat die Bewegung beständig Zulauf. Dazu trägt auch die technische Entwicklung bei. Die Sensoren, die nötig sind, um Puls, Bewegungen oder Schlafdauer zu messen, werden immer kleiner und günstiger – dazu sehen die Clips und Armbänder nicht mehr aus wie Cyborg-Schmuck, sondern können sich mitunter auch in eleganten Uhrengehäusen verstecken. Andere Anwendungen benötigen lediglich die Sensoren des Smartphones: Die App Sleep Cycle beobachtet beispielsweise die Schlafphasen, um den optimalen Moment für das Aufwachen abzupassen. Waze dagegen verfolgt, welche Route man mit dem Auto nimmt, und warnt vor Staus. Weil immer mehr Menschen solche Apps nutzen – im Oktober 2013 besaßen 37,4 Millionen Deutsche ein Smartphone, im Februar 2014 waren es schon 40,4 Millionen –, werden auch deren Prognosen präziser. Und die Geräte sind so eingestellt, dass sie miteinander kommunizieren können. Einmal konfiguriert, tratscht die Waage automatisch ans Telefon weiter: „Seit gestern schon wieder 600 Gramm zugenommen.“ Das Han dy wiederum postet die gewichtige Nachricht auf daytum.com oder livestrong.com – abhängig von den Einstellungen auch sichtbar für Freunde und Kollegen. Virtuelle Zeugen für jeden Bogen, den man um die Salatbar gemacht hat.
ÜBERWACHUNG DIENT AUCH ALS ANTRIEB
Was für manche nach Selbsterniedrigung klingt, ist für andere ein Ansporn, mehr auf sich zu achten. Der Gesundheit wegen. Oder um sich besser zu fühlen. „Letztlich steht dahinter fast immer der Wunsch, Körper und Geist durch das Messen unter Kontrolle zu bekommen“, sagt die Amerikanistin Dr. Anita Wohlmann vom DFG-Graduiertenkolleg „Life Sciences – Life Writing“ der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. „So, wie es Sportler schon seit Jahrzehnten tun, indem sie Blutwerte und Ernährung überwachen, um ihre Leistung zu optimieren.“ Dass die ersten Self-Tracker vermutlich Frauen waren, wird oft vergessen: Seit Jahrhunderten beobachten diese ihren Zyklus. Ob Haushaltsbuch oder Weight- Watchers-Punkte – für viele Frauen ist das Selbstvermessen selbstverständlich. Neu ist, dass die Daten nun nebenbei erhoben werden können. Meist viel genauer und so aufbereitet, dass sich Zusammenhänge erkennen lassen. Wie beeinflusst der Körperfettanteil den Schlaf? Und wie der Schlaf die Produktivität?

Das Bild, das aus den zusammengeführten Daten entsteht, lässt wenig Raum für Selbstbetrug. „Ich konnte sehen, dass ich viel öfter bei McDonald’s und Burger King war, als ich mir eingestehen wollte“, sagt Jens-Martin Loebel. „Und deutlich weniger im Fitnessstudio, als ich mir vorgenommen hatte.“ Loebel ist Informatiker und Psychologe. Fünf Jahre lang analysierte er in einem Selbstversuch seine Bewegungsdaten per GPS. Das digitale Tagebuch, das so entstand, gab mehr über seinen Lebenswandel preis, als er erwartet hatte. „Es ist erschreckend, wie wenige Informationen man benötigt, um ein aussagekräftiges Profil zu erstellen.“ Für Selbstvermesser macht gerade diese Präzision den Reiz aus. „Empirische Daten sind vermeintlich nicht parteiisch“, sagt Dr. Anita Wohlmann. „Zahlen erscheinen uns rational. Gedächtnis und Intuition dagegen stehen unter dem Verdacht, ungenau und nicht objektiv zu sein.“
Ein stabiles Selbstwertgefühl hilft, sich von den Diagrammen und Erfolgsstatistiken nicht zu sehr unter Druck setzen zu lassen. Manche Experten warnen bereits, dass die Selbstvermessung zur Sucht werden kann. Aber: „Das trifft leider auf so ziemlich alles zu“, sagt der Wissenschaftler Jens-Martin Loebel. Denn auch Einkaufen, Essen oder Computerspiele können abhängig machen. Er äußert andere Bedenken: Dritte könnten die Trackingdaten für ihre eigenen Zwecke nutzen. Eltern zum Beispiel, die die Ortungsfunktion im Smartphone nutzen, um die eigenen Kinder zu überwachen. Oder Versicherungen, die denjenigen Sondertarife anbieten, die freiwillig ihre sportlichen Aktivitäten oder ihren Fahrstil tracken lassen. Auch Anita Wohlmann weist auf dieses Problem hin: „Was ist mit den Menschen, die sich der neuen Technik verweigern? Werden diese zu künftig von den Versicherungen schlechter behandelt werden?“ Das sei nicht auszuschließen, sagt Loebel: „Die Schufa-Auskunft zum Beispiel ist eigentlich auch freiwillig – aber versuchen Sie mal, ohne sie ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Handyvertrag abzuschließen.“ Dazu kommt, dass der Datenschutz für manche Anbieter von Gadgets und Apps nur eine Nebenrolle spielt. Einige, so der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv), lassen sich beispielsweise die Rechte übertragen, die Nutzerdaten zu Werbezwecken zu verwenden oder an nicht definierte Dritte weiterzugeben.
MENSCHEN, DIE IHRE SCHRITTE ZÄHLEN, BEWEGEN SICH MEHR
Tracking-Interessierte, die Angst um ihre Daten haben, sollten die AGBs wirklich lesen, auf Anwendungen verzichten, die zu viele Dienste und damit Daten miteinander verknüpfen, oder ihre Daten nur auf dem eigenen Rechner speichern. Und sich fragen, ob Google und Amazon, Apple und T-Mobile nicht ohnehin längst wissen, was sie kaufen, wo sie gehen und stehen und wie viel Zeit sie auf welchen Internetseiten verbringen. Denn selbst wenn heutige Trackingarmbänder und -Apps noch nicht mit der Präzision medizinischer Geräte arbeiten – ihr psychologischer Nutzen ist erwiesen: Menschen, die beispielsweise ihre Schritte zählen, bewegen sich im Durchschnitt deutlich mehr als solche, die das nicht tun. Auch Schuldnerberater fordern ihre Klienten auf, minutiös ihre Ausgaben zu erfassen, statt sich nur auf das Bauchgefühl zu verlassen. Selbsterkenntnis ist in solchen Fällen tatsächlich der erste Weg zur Besserung. Und wer fürchtet, die Selbstüberwachung könne ausarten, installiert sich eben eine App: Moment beispielsweise misst, wie viel Zeit man mit dem Smartphone verbringt – und rät gegebenenfalls dazu abzuschalten.
DIE NEUSTEN GADGETS
Früher zählte man selbst seine Pulsschläge, heute lässt man sich komplett durch diese Geräte überwachen...
DIE ZUKUNFT
Werden wir damit alle rumrennen? Die Apple Watch, die nächstes Jahr auf den Markt kommt, zählt Schritte und Puls, dient als Navi, Fernbedienung, Messenger, iPod und versendet sogar Ihren Herzschlag an andere Apple- Watch-Nutzer. Irgendwann soll man damit im Supermarkt bezahlen können. Doof: Ein iPhone 5 müssen Sie dafür schon besitzen – und bei sich tragen. Der Preis liegt bei 270 €, die Watch ist in zahlreichen Variationen erhältlich. apple.de
DER NEO-KLASSIKER
Der Aktivitätstracker Activité des französischen Herstellers Withings sieht aus wie eine klassische Armbanduhr, kann aber via Bluetooth mit dem iPhone oder iPad verbunden werden und misst die Bewegung. Das Ziffernblatt zeigt das Aktivitätslevel oder die Schlafqualität, der Tracker ist wasserdicht bis fünf Meter, das Lederarmband stammt von Tanneries Haas, die Gerberei beliefert sonst Luxuslabel wie Hermès, Chanel und Louis Vuitton. Preis um 390 Euro. î withings.com
DAS MESS-DUO
Der „Smart Body Analyzer“ ist von Withings, das Armband Up24 von Jaw bone, die beiden kostenlosen Apps können gekoppelt werden (wie auch mit Runtastic und vielen mehr). Die Waage misst das Gewicht, BMI-Wert, Körperfettanteil und Herzfrequenz. Um 149 Euro. withings.com Das Armband von Jawbone zählt Schritte, Strecken, Kalorien, misst Schlafverhalten und weckt per Vibration. Das Armband funktioniert nur in Kombination mit Bluetooth 4.0, Android 4.3 oder neuer, iPhone-Besitzer brauchen ein iPhone 4s oder neuer. Um 113 €. jawbone.com
MEIN LEBEN UNTER BEOBACHTUNG
PETRA-Autorin Wiebke Brauer testete das Armband Up24 von Jawbone und die Waage von Withings. Das Band misst die tägliche Schrittzahl und die Schlafqualität, erinnert an Zubettgehzeiten und weckt per Vibration zur günstigsten Zeit. Dazu gibt man in die gekoppelte App alles ein, was man isst und trinkt.
TAG EINS AUF IN DEN KAMPF
Ein Armband. Eine App. Eine Waage. Noch eine App. Alle zusammen sollen mich vermessen und beobachten – ein bisschen Manschetten habe ich schon. Allerdings erst mal vor der Technik. Kriege ich es zum Laufen? Die Angst ist unbegründet: Die App für Waage und Armband lade ich herunter, beide vernetzen sich, ich lege mein Profil an. Theoretisch könnte ich mich mit anderen kurzschließen, die den Tracker auch besitzen. Dann ließen sich die Werte vergleichen. Gott bewahre. Dann wüsste jeder, wie schlecht ich schlafe und wie gern ich Rotwein süffel.
TAG FÜNF VOLL DRAUF
Das Armband ist super. Könnte allerdings auch daran liegen, dass ich nicht das Ziel habe abzunehmen. Außerdem bewege ich mich ziemlich viel, das Armband kann also abends nicht mit mir meckern. Na ja, kann es doch. Obwohl ich jeden Tag Fahrrad fahre, bewege ich mich an einem Bürotag bei Weitem nicht genug. Das hätte ich nicht gedacht. Tatsächlich nehme ich jetzt an einem normalen Montag öfter die Treppe als den Fahrstuhl. Und: Ich schlafe gar nicht so schlecht! Selbst wenn ich Stein und Bein schwören könnte, dass ich nachts kein Auge zutat, sagt mir die App, dass der Schlaf ganz okay war. Allein dafür mag ich das Jawbone-Armband richtig gern.
TAG ACHT REICHT JETZT AUCH
Och nö. Erstens habe ich keine Lust mehr, jedes gemampfte Schnitzel zu notieren und jede Tafel Schokolade zu scannen, die ich eingeatmet habe, zweitens nervt es mich, dass der Tracker nicht erkennt, wenn ich Rad fahre oder im Fitnessstudio rumtobe – er kann nur Schritte zählen. Dazu weiß ich nach einer Woche plötzlich nicht mehr, was der Vorteil der Dauerüberwachung sein soll. Okay, was ich nicht ahnte, war, dass ich mich offenbar nur von Rotwein, Kaffee, Veggie-Sandwiches und Salat ernähre (und von Schokolade). Über den Daumen gepeilt verbringe ich eine ganze Stunde pro Tag damit, auf meinem Telefon herumzutippen (gut, das tue ich eh viel zu oft, aber dann schreibe ich zumindest Nachrichten an Freunde). Trotzdem muss ich zugeben: Seitdem ich das Armband trage, habe ich – ohne es zu wollen – zwei Kilo verloren.
TAG VIERZEHN DAS WAR’S!
Schluss. Obwohl ich zwischendurch schwer begeis - tert war, lege ich das Armband ab und fühle mich seltsam befreit. Dann nehme ich eben wieder zwei Kilo zu. So ist das Leben.
Fazit: Ein großartiges Gerät, wenn man einen Überblick über Bewegung, Schlaf und Ernährung gewinnen will – gerade bei den ersten zwei Punkten verschätzt man sich kolossal. Aber: Man muss die Kontrolle schon sehr mögen, um das Armband zu tragen.