Die neue Vintage-Revolution

Die neue Vintage-Revolution

Die Nostalgiewelle läuft. Diese Saison feiern die Swinging Sixties ein Comeback. Warum sind wir eigentlich so fasziniert von unserer Vergangenheit? Sind uns die eigenen Ideen ausgegangen?

Frau im Vintage-Look© iStockphoto/Thinkstock
Frau im Vintage-Look

Nun also die Sechziger. In diesem Winter sitzen wir mit hochtoupiertem Haar unter der Panton-Pendelleuchte, hören knisternde Knef-Chansons und überlegen, ob die Kollegen wohl lachen, wenn wir mit einem senffarbenen Carnaby-Street-Samtanzug zur Arbeit erscheinen. Dabei haben wir die 80er-Neon-Sweatshirts noch gar nicht richtig eingemottet, waren am Wochenende auf einer Nineties-Party tanzen und sind immer noch begeistert, wenn „Mad Man“ Don Draper irgendeiner Sekretärin an den Petticoat geht. Retro bestimmt unser Leben.

Egal ob Musik, Mode oder Design, überall wird die Vergangenheit zitiert. Selbst die Fotos, die wir mit unseren nigelnagelneuen iPhones machen, jagen wir durch einen Filter, damit sie hinterher so gelbstichig aussehen wie im „Amrum ’76“-Album unserer Eltern. Klar, gerade in unserer schnelllebigen und hoch technisierten Welt ist Retro ein schöner Anker, den wir auswerfen, um anzuhalten und Luft zu holen. Das Problem ist nur: Die Trends wiederholen sich immer schneller, überschneiden sich sogar. Fifties-Kommode? Haben wollen! Siebziger-Schlaghosen? Ja, unbedingt! Neunziger-TV-Serien? Hey, cool!

Unser Leben ist inzwischen eine Collage aus vielen Retro-Schnipseln. Doch so langsam schleicht sich das Gefühl ein, dass bei allem nostalgischen Schwelgen gar nichts Neues mehr entsteht. Und überhaupt: Wie oft kann man eine Dekade recyceln, bevor sie anfängt zu nerven? „Auch frühere Zeitalter haben ihre Altertümer gerne wieder aufleben lassen“, schreibt der britische Pop-Chronist Simon Reynolds in seinem Buch „Retromania – Wenn der Popkultur die Vergangenheit ausgeht“ (Ventil Verlag). In der Renaissance wurde der griechische Klassizismus verehrt, in der Neugotik des 19. Jahrhunderts das Mittelalter heraufbeschworen. „Aber es hat noch nie eine Gesellschaft gegeben, die so vernarrt in die Kultur ihrer jüngsten Vergangenheit war wie wir heute.“

Vor allem in der Mode wird munter mit Retro-Versatzstücken gespielt. 80er-Kastenmantel trifft auf barock anmutenden Brokat, Art-déco-Bluse auf Sergeant-Pepper-Anzug. Louis-Vuitton-Chefdesigner Marc Jacobs ließ zum Abschluss der Pariser Fashion Week sogar eine historische Dampflok in den Innenhof des Louvre einfahren. Die Models, die heraussprangen, wirkten mit ihren tulpenförmigen Mantelschößen und hohen Hutkappen, als wären sie direkt aus dem 19. Jahrhundert gepurzelt. Natürlich kopieren die Designer nicht einfach alte Schnittmuster, neue Technologien machen neue Materialien möglich, und durch Brüche (bei Marc Jacobs waren es die Sixties-Prints) entstehen aufregende Looks.

History stat Sci-Fi

Da geben sich Hollywoods Studiobosse deutlich weniger Mühe. Sie haben ein neues Vehikel gefunden, um mit unserer Retro-Faszination Geld zu scheffeln: sogenannte Biopics, die filmische Adaption von Promi-Biografien. Lindsay Lohan spielt Elizabeth Taylor, Naomi Watts steht als Lady Di vor der Kamera, Nicole Kidman als Grace Kelly. Anthony Hopkins verkörpert Alfred Hitchcock, Michael Douglas Liberace und Ashton Kutcher gibt uns den Steve Jobs. Dazu sind weitere Biopics über Freddie Mercury, Elvis und (gleich zwei) über Ronald Reagan geplant. Puh. Die Filmausstatter müssen sich derzeit in den Secondhand-Läden von Los Angeles die Klamotten und Lampenschirme nur so aus den Händen reißen.

Auch in der Popmusik ist rückwärts das neue vorwärts. Musiker aller Genres bedienen sich ungehemmt an Papas Plattenkiste: von Sixties-Soul (Adele) über kühlen Eighties-Synthie-Pop (The Hurts) bis hin zu Rock ’n’ Roll (The Baseballs, Dick Brave). Damit nicht genug, auch die Originale – tot geglaubte Altrocker oder Nineties-Boybands – tauchen plötzlich wieder auf, um noch mal auf Tournee zu gehen. Es gibt kaum einen aktuellen Song in den Charts, der nicht auf irgendein altes Musik-Sample zurückgreift. Und selbst Lady Gaga klaut bei Madonna (behauptet zumindest Madonna). Wo aber läuft das Lied, das uns sprachlos macht, weil es so neu und anders klingt? Wollen wir nicht auch einmal so hyperventilieren wie unsere Mütter und Großmütter, als sie das erste Mal „Love Me Do“ von den Beatles gehört haben?

Simon Reynolds gibt dem Internet die Schuld. Seine Diagnose: Pop erschöpft sich selbst in seiner Flucht in die Archive. Fast sekündlich werden auf Youtube & Co. Retro-Clips hochgeladen. Die Tatsache, dass wir uns ständig mit diesen Kulturdatenbanken beschäftigen, lähmt unseren Hunger auf etwas Neues. „Und falls doch innovative Trends aufflackern“, so Reynolds, „kriegen wir es einfach nicht mit, weil wir zu vielen Einflüssen ausgesetzt sind."

Vielleicht fehlt uns heute auch die Besessenheit, die ein neuer Trend braucht, um richtig aufzublühen. Früher war man wahnsinnig genug, einmal nach Paris zu fahren, um ein Paar Schuhe zu kaufen, die es nur in diesem einen kleinen Seitenstraßen-Shop gab. Heute kann man alles rund um die Uhr im Internet bestellen. Oder auch nicht, schließlich fehlt da auf einmal der „Ich muss diese Pumps jetzt unbedingt haben, oder ich sterbe!“-Druck. Wir haben es uns in unserer Gesellschaft gemütlich gemacht, selbst die Jugend rebelliert nicht mehr. Wo sollen die Designer auch neue Visionen hernehmen, wenn es keine Teenager mehr gibt, die ihre T-Shirts kaputt schnippeln und sich Sicherheitsnadeln durch die Nase jagen, nur um die Eltern in den Wahnsinn zu treiben?

Aber was passiert denn nun, wenn der Popkultur die Vergangenheit ausgeht? Auf diese Frage gibt Simon Reynolds in seinem Buch leider keine Antwort. Außer dem Fazit: „Ich bin sicher, dass es irgendwo da draußen eine Zukunft gibt.“ Und wenn nicht, wird auf einer Party im Jahr 2038 folgender Small Talk zu hören sein: „Coole Jacke – ist die aus den Sixties?“ – „Nee, die ist von 2012, aber basiert auf einem Original-Piece von 1968, das 2025 noch mal aufgelegt wurde und jetzt das totale Herzstück der neuen Vintage-Kollektion von..hallo?"

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