
Am vergangenen Samstag öffnete ich die Tür zu einem Hamburger Club und landete im Jahr 1992. Junge Mädchen in Chucks und Karohemden rockten ab zu einem Nirvana- Song, dass ihre Zöpfe flogen. Sie gaben sich große Mühe, gleichzeitig böse, gelangweilt und sexy auszusehen. Am nächsten Tag rief mich eine alte Freundin an und erzählte von einem Wochenende in Wien. Sie war von der gleichen Zeitmaschine verschluckt worden wie ich. „In den Szene-Läden stehen alle auf Eurotrash!“, berichtete sie schockiert. „Hyper, Hyper!“, riefen wir wie aus einem Mund. Danach schwiegen wir einen Moment und legten eine Gedenkminute für unsere eigene Jugend ein. Jetzt war es so weit. Sie hatte uns eingeholt. „Sing Hallelujah“!
Die 90er-Jahre waren wie eine bunte Wundertüte
Die Neunziger sind zurück. Nicht nur als ironisches Zitat im Nachtleben. Marc Jacobs schickt seine Models in Plastikröcken über den Laufsteg, die sich auch super auf einem der ersten Love-Parade-Trucks gemacht hätten. Knallfarben, Mottoshirts, Collegejacken und Sneakers mit Plateauabsätzen stolpern aufs Neue ins Rampenlicht. Und das singende Mädchen von nebenan ist auch wieder da, sie heißt nur nicht mehr Tracy Chapman, sondern Adele. Selbst die gute alte Popliteratur stapelt sich wieder in den Buchhandlungen. Egal, dass Benjamin von Stuckrad- Barre längst im grauen Einreiher bei Plasberg zu staatstragenden Themen talkt – wir haben Sarah Kuttner und Charlotte Roche.
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Das Unfertige, das Improvisierte, das Verspielte war unser Motto. „Das Leben ist eine Baustelle“ – das galt nicht nur im Kino oder für unsere dauernden WGWechsel, sondern immer und überall. Wir tanzten in alten Industriehallen oder stillgelegten Straßenbahndepots statt in durchgestylten Discos, wir chillten auf Sperrmüllmöbeln statt auf dem Designer-Barhocker. „Ich bin gerne Girlie!“, plapperte die VIVA-Gute-Laune-Granate Heike Makatsch einem „Spiegel“-Interviewer ins Mikro und hielt ihre Zöpfe in die Kamera. Sogar der Neue, der 1998 den Endlos-Kohl ablöste, war irgendwie kindisch: Gerhard Schröder rüttelte am Kanzleramt und rief: „Ich will da rein!“, posierte geckenhaft im Brioni-Anzug, statt mit Genossen Grundsatzdebatten zu führen. Doch auch wenn wir uns äußerlich als Grunge-Girls gaben, im Winona-Ryder- Slacker-Look auf Siff-Sofas herumlungerten, als wären wir gerade aus dem Filmset von „Reality bites“ ausgebrochen – wir konnten uns diese Verspieltheit nur leisten, weil unter dem Trödler-Teppich ein goldener Boden lag.
Wir waren die letzte „Generation Festanstellung“. Auch wenn wir es nicht ahnten. Mein erster Arbeitsvertrag 1995 war nur befristet durch das Erreichen des Rentenalters mit 65. Sechser im Lotto? Nö, ganz normal. Abends beschwerte ich mich bei meiner Clique über den spießigen Paragraphen: „Ich fühl mich so alt!“ Was für ein Luxusproblem. Immer schön ironisch bleiben, bloß nicht festlegen – so tanzten wir durch das Jahrzehnt. Dazu kippten wir Caipirinha, rauchten nicht nur das, was man für fünf Mark am Automaten ziehen konnte, und hatten mehr Sex an einem Wochenende als eine Beziehungskomödie mit Katja Riemann in drei Akten. Die da oder die da? Der da oder der da? Am liebsten beide. Zugegeben: Das lag nicht nur am Jahrzehnt, das lag auch am Alter. Aber trotzdem: Da war etwas in der Luft, eine Love-Parade-Stimmung, die bis auf die Futonmatratzen unserer Schlafzimmer reichte. „Definitely Maybe“, „auf jeden Fall vielleicht“ - der Titel eines Oasis-Albums stand Pate für unser Liebesleben. Ich erinnere mich gut an dieses Gefühl: unverwundbar zu sein. Unverwundbare Lunge, unverwundbare Leber, unverwundbares Herz. Wenn ich dann doch mal tief getroffen wurde, genoss ich auch das. Setzte mir den Discman auf (iPod? Gab’s noch nicht!), legte mich auf die Wiese und weinte wie im Videoclip, während The-Verve-Frontmann Richard Ashcroft die „Bittersweet Symphony“ meines Lebens besang. Dann traf ich mich mit einer Freundin und zog dem nächsten Abenteuer entgegen.
Vielleicht im allerneuesten Sperrmüll-Club – vielleicht auch schon zu Hause vor dem Bildschirm. Mitte/Ende der Neunziger eröffnete das Internet auf einmal ungeahnte Dating-Möglichkeiten. Durch das World Wide Web wurde aus dem Blauen Planeten wirklich ein Dorf. Nicht nur, weil man auf einmal elektronisch mit Jungs aus New York und Kapstadt flirten konnte. Das Schlagwort von der „Globalisierung der Märkte“ entpuppte sich als greifbare Realität. Das Shirt von GAP, 1992 noch bei der Mitbewohnerin auf USA-Trip bestellt, gab’s 1998 auf einmal im Onlineshop, die River-Rafting- Strecke in Tirol schauten wir uns per Webcam an. Anfang des Jahrzehnts hatte ich das Autotelefon meines Vaters noch peinlich gefunden – am Ende hatten meine Freunde und ich dann selbst Handys, Marke Dinosaurierknochen, und tippelten uns den Wolf beim Verfassen der ersten SMS.
Am 11. August 1999 starrte ganz Deutschland zum Himmel, die Augen durch Faltbrillen aus Pappe geschützt, und sah die Sonne verschwinden. Vielleicht war das der Tag, an dem die 90er-Jahre endeten. Die letzte Party, in die sich schon ein Hauch von Unbehagen mischte. Pünktlich zum Jahrtausendende kamen die Ängste wieder: dass mit der Computerumstellung auf das Jahr 2000 Radiowecker verrückt spielen würden oder Flugzeuge abstürzen, dass es nicht ewig so weitergehen konnte mit den hochfliegenden Aktienkursen der New-Economy- Firmen. Wir ahnten, dass wir vielleicht doch nicht in der besten aller möglichen Welten lebten, und stellten fest, dass der Partyhit „1999“ von Prince eigentlich vom Weltuntergang handelte.
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