"Michelangelo", sagt Raffaella, "bekam 1501 den Auftrag, den David aus einem Marmorblock zu meißeln." Mit diesen Worten in akzentfreiem Deutsch deutet meine kunsthistorische Fremdenführerin auf das Werk des Meisters. Statt meinen Blick auf den Marmor-Adonis zu heften, bleibt der an Raffaellas ausgestreckter Hand hängen. Dort kann ich weitere faszinierende Kunstwerke besichtigen: einen 3-D-Schmetterling mit Sternchen auf dem Daumennagel, plastische Blüten aufallen anderen, darunter psychedelische Muster in Hochglanz-Acryl. Raffaella, multilingual, Kunstdozentin und offenbar nicht auf den Kopf gefallen, bringt so mit einem simplen Fingerzeig mein Weltbild zum Einsturz. Lassen Sie mich das erklären: Der Zustand meiner Nägel ist mit „schwierig“ treffend umschrieben. Jedes Mal, nachdem sie es über die Fingerkuppe geschafft haben, brechen sie zuverlässig ab. Während meine Klassenkameradinnen früher Perlmuttlack probierten und die Nägel zu perfekten Ovalen feilten, belegte ich als Alibi einen Gitarrenkurs, für den kurze Nägel sozusagen Teilnahmebedingung waren. Mein Ziel, cool wie Sheryl Crow zu rocken, verfehlte ich knapp, als ich nach vier Kursstunden wegen schmerzender Blasen das Handtuch warf. Und das, obwohl ich nicht mal fehlerfrei die vier Akkorde von „Knockin’ On Heaven’s Door“ schrammeln konnte.
An der Uni war ich nicht die Einzige mit Nagel-Trauma. Kommilitonin Maria sagte: „Beim Volleyball kann man keine Tussi-Flossen brauchen.“ Maria machte Skulpturen aus Holz, Tanja Taekwondo. Lucia betonte, dass Männer Angst hätten vor Frauen mit „Cruella de Ville“-Fingern und unweigerlich Erektionsprobleme bekämen. Einig waren wir uns alle, dass wir für oberflächliches Lackgepinsel viel zu intellektuell waren. Wir waren Fans der Theorie, dass feinmotorische Tätigkeiten intelligenter machen, weil dadurch neuronale Verknüpfungen im Gehirn entstehen. Denn wenn man schon durch überlange Kratzer beim Drücken der Fernbedienung Probleme bekam, bedeutete das doch: Künstliche Nägel machten dumm! Oder etwa nicht?
Keineswegs, wie spätestens Raffaella in Florenz eindrucksvoll widerlegte. Da meldete sich wieder meine Sehnsucht nach – nein, nicht nach Schmetterlingen, Sternchen oder überlangen Schaufeln am Finger. Aber wenigstens nach – irgendwas. Den Ausschlag gab ein paar Wochen später meine Hausärztin. Die riet mir angesichts eines gesplitterten Nagels:„ Wenn Sie keine Entzündung riskieren wollen, sollten Sie sich da was drauf machen lassen. Gegenüber ist ein Nagelstudio.“ Seitdem weiß ich: Wunderbare Fingernägel sind nicht nur machbar und man kann mit ihnen alles machen – sie können auch ganz natürlich aussehen. Vielleicht probier ich’s sogar bald mal mit Farbe.